Das Grauen lauert in der Übung

Kristina Drews

von Kristina Drews

Story

Ich bin in meiner zweiten Übung. Mein erstes Semester. Ich kenne nur ein einziges Mädchen und setze mich neben sie. Ich hatte mir fest vorgenommen Freunde zu finden. Ich gucke mich im Raum um und stelle mir vor, wie ein unvoreingenommener, glücklicher Mensch eines vollkommen natürlichen Studiengangs wie Biologie oder Germanistik vor dem Fenster entlang schlendert, einen Blick in den kleinen grauen Raum mit den zwei bis an den Rand mit Deltas, Phis und Lambdas geschmückten Tafeln wirft und erstarrt. Er sieht zwei Reihen gut gelaunter, junger Menschen, die sich vollkommen zufrieden und motiviert unterhalten. Vorne links eine grobschlächtige, junge Frau mit Brille, über die sie bei beängstigend breitem Grinsen hinweg schielt. Dahinter breiter Typ mit Metallshirt, Brille und einer Zahnspange, die ihn leicht und irgendwie niedlich lispeln lässt und für die man den Zahnarzt verklagen sollte. Dahinter ein Typ ohne Brille, ungelogene 2,20 Meter lang und mit dem Gesicht eines Zehnjährigen. Sein Körper hatte offenbar alle Energie in die Streckung seiner Gliedmaßen gepumpt und sein rosiges Näschen und den Babyspeck auf den Wangen glatt vergessen. Gleich daneben ein bebrilltes Mädchen mit langen fettigen, schwarzen Haaren, die direkt an ihrem Kopf kleben und ihre eindrucksvollen Segelohren unterstreichen. Es stimmt. Diese Übung wurde von ungewöhnlich vielen weiblichen Physikern besucht. Was würde dieser außenstehende Beobachter wohl von mir halten? Vielleicht, dass ich die Putzfrau bin, denke ich kurz erleichtert, bis ich vor mich auf den Tisch schaue. Ich tippe wie besessen auf einem Taschenrechner herum, raufe mir seit zehn Minuten die Haare und kaue gedankenverloren an einem trockenen Rest Brot herum. Na bravo.

Die Stunde fängt an und Physiker um Physiker schreitet nach vorn und schreibt Formel um Formel an die Tafeln. Und ständig muss gewischt werden. Jeder mindestens einmal. Ich, die mein glamouröses Abitur an einem fortschrittlichen Gymnasium mit innovativen Whiteboards machte, finde das Ganze mehr als entnervend. Schließlich geht Nummer vier nach vorne. Weibliches Kantengesicht mit Schielblick über die Brille. Sie schreibt und freut sich, weil sie das so geschickt gerechnet hat. Schreibt und geht ans Waschbecken, um den großen Tafelwischer und Abzieher zu holen. Dann steht sie vor der Tafel und lächelt listig. Sie hat eine neue, bisher unentdeckte Innovation gefunden. Um die Tafel zu wischen. Nicht wie ihre Vorgänger, die erst eine Runde alles nass wischen und dann in der zweiten Runde alles trocken abziehen. Nein, sie macht es ganz und gar praktisch, beides auf einmal. Dafür hält sie Wischer und Abzieher hintereinander in einer Hand. Bevor sie damit auf der Tafel loslegt, wirft sie einen äußerst selbstzufriedenen Blick ins Auditorium. Man kann förmlich spüren, wie sie vor Genugtuung strotzt. Leider fällt ihr deshalb erst zu spät auf, dass sie zuerst den Abzieher und dann den Nasswischer platziert hat. Peinlich. Doch sie lässt sich nicht beirren, sondern macht fröhlich grinsend einen Neuanfang, ganz und gar Stolz auf diese Erfindung, während sie sich mit der freien Hand die Brille zurück auf die Nase schiebt. Ich schüttle tieftraurig meinen Kopf und seufze. Kantengesicht braucht dreimal so lange zum Tafelputzen wie ihre Vorgänger.

© Kristina Drews 2023-09-05

Genres
Humor& Satire