von Daniela Neuwirth
Lilly tippt unerwartet eine Klage. Sie achtet nicht mehr auf die Länge beim Zurückspulen, so kann sie sich selbst überraschen. Im Text kommt unter anderem eine Begründung vor, die sie hellhörig machte: Die Grundstückspreise in Kampen sind die höchsten in ganz Deutschland. „Also, dass es ein Wahnsinn ist dort, wusste ich, aber höher als in Berlin, Hamburg, München?“ Da er recherchiert hat, wird es seine Richtigkeit haben.
Ebenfalls in Kampen steht das Haus am Kliff-Ende, eine besonders schöne Friesenhausanlage in den Kampener Dünen mit freier Sicht auf die Nordsee, dass angeblich der Deutschen Bank gehört, doch sie ist sich sicher, dass ihr erzählt wurde, dass es sich ein Schweizer gekauft hat. Als sie in den ersten beiden Wochen auf der Insel noch im Auto übernachtete, parkte sie am liebsten in Kampen, da es dort in der Sanitäranlage den Luxus von Warmwasser gab.
Dort stand sie zwischen dem Haus am Kliff-Ende und der Sturmhaube, eines der Restaurants, die über die Grenzen nach Österreich bekannt waren und mit Sansibar und Fährhaus, in die Kategorie „Wo man mal gewesen sein muss“ fielen. Nicht nur die Einsamkeit der Parkflächen direkt am Roten Kliff nach Mitternacht, wo die Gäste aus der Alleinlage der Sturmhaube abrauschten, sondern auch der täglich phänomenale Sonnenaufgang in herrlich intensivem Pink-Orange gegen 4 Uhr morgens waren ein Geschenk.
Sie beneidete die Besitzer des BMW-Kombis, die nachts eine Matratze auf die Ladefläche packten und ausgestreckt liegen konnten, auch die Fahrer des VW-Busses, der innen ausgestattet war, wie eine Wohnhöhle – am Dach natürlich zwei Surfbretter, die morgens als Erstes in Verwendung waren, bevor sie sich die Neoprenanzüge abstreiften, die bunten Shorts überzogen und mit den Liegetüchern zum naturbelassenen Strand am Roten Kliff eilten.
Sie selbst musste mitsamt den Koffern und Kind plus Schulranzen und seinem Tresor so halb im Sitzen schlafen. Das wichtigste Utensil war das Pölsterchen am Genick, denn ohne dieses gab es morgens Aufwachen mit einem geknickten Hals. Ein weiterer wichtiger Punkt, den sie nach der ersten Nacht herausgefunden hat, war die nötige Parkmöglichkeit unweit von einer Toilette zum Aufwachen.
Der Sohn hatte es schön, da er mit seiner Körpergröße im 9. Lebensjahr seine Beine ausstrecken konnte, wenn der Sitz nach hinten gelegt war. Das Ausstrecken wurde aber dann am Badetuch in Sand und Sonne einen Meter vor der Brandung und 30 Meter vorm Kliff, dass in der Mittagssonne hellbraun und in der Abendsonne rotbraun schien, nachgeholt, satt Vitamin-D getankt und der Genuss der Geräuschkulisse von Meeresrauschen, glücklichen Kindern, kreischenden Möwen akustisch inhaliert.
Da er „seinen Bausparer ausbezahlt bekommt“, hat Anwalt X vor, sich das Haus am Kliff Ende zu kaufen, scherzt er und sorgt nicht nur für Heiterkeit, sondern erinnert sie an ihre Vorsorge-Reserven, die sie schon vergessen hatte und auch gleich wieder vergessen wird.
© Daniela Neuwirth 2021-03-29