von Gernot Candolini
Warum gibt es biologisch hergestellte Baumwollhemden deren Etikett aus Acryl besteht und mit einem Plastikfaden eingenäht ist? Welcher Dummkopf hat das wohl angeordnet?
Ich muss das Etikett herausschneiden. Das habe ich von meiner großen Tochter gelernt. Sie hatte immer eine Schere zur Hand, wenn ihr irgendein Kleidungsstück nicht passte. Als sie einmal Omas nagelneue Bluse auf die richtige Armlänge gekürzt hatte, wusste ich, dass sie so was von recht hat. Aus meinen Unterleibchen habe ich die Etiketten auch schon heraus geschnitten. Manchmal trifft man den eng genähten faden nicht und man schneidet ein Loch hinein. Bei einem Unterleibchen ist das egal. aber das ist ein teures Biohemd, das ich gerne zu Vorträgen anziehe. Das Etikett juckt und sticht. Ich habe sogar schon einmal Blasen von einem Etikett bekommen. Richtig wilde allergische Hautblasen, die nur mit Cortison gebändigt werden konnten. Das Jucken macht mich aggressiv. Ich sehe den Hemdenfabrikanten vor mir, der das einnähen hat lassen und schneide vor seinen Augen ein Loch in das Hemd, und dann fuchtel ich ihm mit der Schere vor der Nase und sage: „Falls es dich irgendwo juckt, dann kann ich helfen.“
In einem normalen Reisekoffer gibt es keine Schere, die Rezeption ist nicht besetzt, der Haartrimmer am Rasierapparat bleibt bei meinen Versuchen jeweils stecken. Etiketten sind so eingenäht, dass sie sich nicht einfach herausreißen lassen, sondern es muss sorgfältig die Naht aufgeschnitten werden. Kurz zögere ich, ich halte heute Abend mit diesem Hemd einen Vortrag, von hinten müsste das Sakko ein allfälliges Loch jedoch abdecken.
Ich bin kein Feigling. Runter auf die Straße, es ist kalt und nass und es dauert 20 Minuten bis ich einen Papierladen gefunden habe, der allerdings eine richtig gute Auswahl an Scheren hat. Meine Wahl erinnert mich von der Form an das Kurzschwert der Hobbits, liegt gut in der Hand und hat eine breite, kurze Klinge. Die bleibt ab jetzt im Reisegepäck. In Hinkunft wird alles weg geschnitten was stört.
Nach mehreren unglücklich verlaufenden Schnitten, habe ich das Hemd nicht nur um das Etikett, sondern um den Kragen gebracht. Aber es sieht mit etwas Phantasie sogar elegant aus, irgendwie künstlerisch.
© Gernot Candolini 2020-04-15