von Jonathan Sitz
Auf den ersten Blick war Herr Maier ein Neunundsiebzigjähriger wie jeder andere. Er hatte sein Leben lang mittelhart gearbeitet, geheiratet, Kinder bekommen und ein Haus gekauft. Oder wie Herr Maier zu sagen pflegte: Er hatte ein langes, unerfülltes Leben gehabt. Klar, Herr Maier war auch immer wieder mal zufrieden gewesen. Aber glücklich? Glücklich hatte Herrn Maier nur eines gemacht, nämlich Frau Maier. Und das auch nur an guten Tagen, an denen sie ihn nicht aus dem Haus geschleift hatte, um ihn zu „sozialisieren“. Doch Frau Maier war schon lange fort. Zehn Jahre war es nun her, dass der liebe Herrgott sie ihm genommen hatte.
Seitdem führte Herr Maier ein trostloses Leben, allein, in einem stillen Haus ohne Seele, in einem einsamen Dorf fern seiner Kinder. Sein Sohn, Herr Maier Junior, und seine Tochter, die jetzt Frau Baier hieß, ließen sich mit all den Enkeln, von denen es mittlerweile sieben gab, nur zu seltenen Anlässen blicken, seit Frau Maier gestorben war, denn Herr Maier war ihnen “zu grantig”. Wann immer sich Herr Maier darüber beschwerte, drohten ihm seine Kinder, ihn in eines der gottlosen Altersheime in ihrer Nähe zu sperren, nein danke!
Und so blieb Herr Maier allein zurück in dem kleinen Dorf, in dem er schon aufgewachsen war, weit weg vom Trubel einer großen Stadt. Nennen wir dieses Dorf Klein-Kirchdorf. Klein-Kirchdorf war außergewöhnlich gewöhnlich. Es gab eine lange Straße, die durch den ganzen Ort führte, weil der Ort nur aus dieser einen Straße bestand. Die Einwohner nannten sie die Hauptstraße, obwohl nichts an der Hauptstraße an eine Straße erinnerte, die diesen Namen auch verdiente. An der Hauptstraße gab es eine Trafik, einen Bäcker und ein Gasthaus, wie es sich für ein Dorf nun mal gehörte. Und es gab eine Kirche, denn sonst würde Klein-Kirchdorf wohl kaum Klein-Kirchdorf heißen. Das Leben in diesem Dorf war Herrn Maier über alle Maßen zuwider, denn der Altersschnitt der Klein-Kirchdorfer lag, wie sollte es anders sein, bei fünfundsiebzig. Und das war Herrn Maier eindeutig zu hoch, denn er hasste all die Dinge, die alte Menschen nun einmal machten: Herr Maier hasste das Gasthaus, er hasste Schnapsen und er hasste die gottverdammte Kirche.
Nichts gab es mehr, wofür es sich zu leben lohnte! Alles, was Herrn Maier geblieben war, war sein betagter Yorkshire Terrier, den noch Frau Maier für ihn ausgesucht hatte und den er liebevoll “Wuffi” nannte. Und als der Tag kam, an dem der Tierarzt seinen geliebten Wuffi mit einer Spritze niederstreckte, fragte Herr Maier bloß, ob er denn auch eine haben könne. Denn nun sollte wahrhaftig Schluss sein mit diesem Leiden! Herr Maier wollte erlöst werden, wie sein Wuffi erlöst worden war.
Und so fasste Herr Maier einen Entschluss. Er würde nicht auf eine schwere Krankheit oder das hohe Alter warten, oder auf einen betrunkenen Autofahrer. Wenn der liebe Herrgott ihn noch warten ließ, musste Herr Maier eben selbst Hand anlegen. Und als Herr Maier das nahende Ende plante, fühlte er zum ersten Mal seit vielen Jahren eine neue Freiheit. Ja, er stand ganz und gar zu seinem letzten verbliebenen Wunsch: Herr Maier wollte sterben.
© Jonathan Sitz 2024-08-31