Das ist so eine Sache mit dem Ernst Teil 1

Bettina Barth

von Bettina Barth

Story
Norddeutschland

„Und du darfst nicht vergessen!“, befahl mir Kim am Telefon, „Wenn wir uns das nächste Mal sehen, dann bringe ich eine riesige Papierrolle mit und es geht nicht nur darum, das Negative zu sehen.“

Nun saß ich hier, in der lichtdurchfluteten Küche meiner Eltern und wusste, dass dieses Gespräch unangenehm werden würde. Aber wir waren Pioniere! Es gab vielleicht schon einige wenige in den Generationen vor mir, aber wir waren die Generation, die jetzt die alten Geschichten auf den Tisch brachte, die unsere Eltern und Großeltern und Urgroßeltern noch verdrängt haben. Irgendwie beruhigte es mich, dass meine Eltern mindestens genauso angespannt waren wie ich. Dabei versicherte ich: Kim aus meiner Grundschule auf dem besten Wege, im Bereich Traumatherapie zu arbeiten. Dass Kim sich dafür entschieden hat, keine Pronomen zu haben, ließ ich aus an dieser Stelle. Das würde meine Eltern zu sehr verwirren, sie sind nicht die Generation, die Verständnis für solche Dinge hatte. Also versuchte ich einfach nach besten Wissen und Gewissen jede Art von Pronomen zu vermeiden.

Das Wichtigste war natürlich: Auch, wenn es um Studienarbeit geht: Datenschutz. Die kleinen Leute auf dem platten Land wie meine Eltern haben doch immer Sorge, dass die Nachbarn darüber reden könnten. Das war der Grund für alles, warum gerade heute keine Zeit war, über tiefgründige Themen oder eigene Fehler oder Probleme zu sprechen. Mentale Gesundheit wurde einfach weggelächelt. „Warum denn heute über so ein schweres Thema reden, ist es doch so ein schöner Tag!“ war da eine genauso geläufige Floskel wie „Warum denn heute war so ein schweres Thema reden, wir haben hier schon genug Trübsal bei dem Schietwetter!“

Die Seite meiner Mutter war schnell abgegrast. Viel Alkohol, viel gescheiterte Träume und das Gefühl, dass Ungerechtigkeit durch Flucht und Diskriminierung als Flüchtling geschah, als Polaken beschimpft, bespuckt, bisschen schwierige Familiengeschichte. Das wusste ich, durfte ich doch damals in den Neunzigern nicht in den Schützenverein, weil ich keine „echte“ Deutsche für diesen alten Naziopa war, der dort damals noch das Sagen hatte. Ich solle doch zu meinesgleichen, den anderen Polaken gehen. Aber bei der Seite meines leiblichen Vaters wurde es sehr interessant. Er war leider schon gestorben, als ich 8 war, meine Mama hat dann neu geheiratet, den Jochen aus der Trauerbegleitung. Er war genauso mein Papa wie mein verstorbener Papa. Und auch er wurde natürlich Teil des Ganzen, denn auch er war prägend für meine Kindheit und Jugend. Aber weil Familiengeschichte nie so das Thema war, hörte ich zum ersten Mal von meinem Uropa. Ernst.

„Hätte ich das alles einmal früher gewusst!“, entfuhr es mir, denn der Held der Kindheit war mein Opa, der Vater meines verstorbenen Vaters, Opa Ludwig. Er hatte früh seine Frau und dann auch noch seinen Sohn verloren, ich war seine einzige Familie bis er vor wenigen Jahren noch. Dieser Mann hatte ein so spannendes Leben! Aber ich wusste nie, was sein Antrieb war. Ich nahm das immer einfach so hin. Er war einfach für mich eine unglaubliche Motivation. Ich hätte nicht gedacht, dass mich die ganze Sache so aufwühle würde, wie sie es jetzt tat …

© Bettina Barth 2023-06-05

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