Das Kaninchen Petersilie

Tim Grossmann

von Tim Grossmann

Story

Diese Geschichte kenne ich von meiner Mutter, denn damals war ich noch nicht geboren. Sie erzählt sie manchmal, wenn wir bei Wein und Bier zusammensitzen und wir lachen, bis uns die Tränen kommen, daher will ich sie teilen:

Als meine ältere Schwester noch ein kleines Mädchen war, Anfang der Neunziger, boten ihr meine Eltern alle Unterhaltungen, die eine ostdeutsche Kleinstadt damals zu bieten hatte, was Jahrmärkte, Feste, ab und an ein Zirkus und ein Rummel waren. Auf eben so einem Rummel gewann meine Schwester eines späten Julitages ein Kaninchen – ja, sie löste ihre grünen Gewinnlose an der hohen, bunten Bude ein und bekam kurzerhand einen kleinen Käfig mit einem noch kleineren Tier darinnen in die Hand gedrückt. Unsere Eltern setzten also meine Schwester samt Kaninchen auf die Rückbank des Trabanten und fuhren heim in die Steudner-Straße. Sie hatten noch einen Meerschweinchenstall in der Wohnung und für das Kaninchen war ein Zuhause gefunden; Ein Name fand sich auch bald, als meine Schwester ankündigte: Das Kaninchen heißt Petersilie. Nur, Petersilie wuchs und wuchs. Was man als Zwergkaninchen gerne annahm, erreichte bald Ausmaße, denen man von weitem ein Halsband und eine Leine anlegen würde und alles quoll durch die Gitterstäbe des Meerschweinchenstalls. Ja, Petersilie war ein stattliches Karnickel, welches sein Züchter wohl zum Schlachten ersonnen hatte. Meine Eltern brachten meiner Schwester nahe, dass Petersilie ein größeres Zuhause bräuchte und hatten prompt einen Vorschlag parat: unsere Großtante Bärbel, die in ihrem großen Garten in einem großen Stall immer schon Kaninchen hielt. Natürlich war der Abschied schwer, aberman würde Petersilie schließlich besuchen.

So ĂĽbersiedelte das Kaninchen Petersilie zu unserer GroĂźtante in die Oberlausitz, wo hinter vorgehaltener Hand die Abmachung getroffen wurde: mach mit dem Karnickel, was du immer machst, aber sag’s ihr nicht. Oder, wie meine Mutter es heute in breitem sächsisch ĂĽberliefert: »Petersilie starb den Karnickeltod und irgendwer hat es gefressen.« Wann immer meine Schwester zu Besuch kam, in Kottmarsdorf in den Garten gesprungen kam, sie wollte Petersilie sehen. Meine GroĂźtante zeigte ihr natĂĽrlich Petersilie, nur war es jedesmal ein anderes Karnickel. Mal größer und mal kleiner, mal bunt gescheckt, mal rabenschwarz. Petersilie war ein vielgestaltes Tier und meiner Schwester wurden die wildesten Geschichten aufgetischt, ob es nun in den Kohlenkeller gefallen oder sich dickgefressen hatte. Wie jede gute Geschichte hat auch diese eine traurige Note, schlieĂźlich sollte man vor Kindern wohl den Tod nicht verheimlichen. Aber, ist es nicht eine herrliche Geschichte? Ich denke schon, darum hab ich sie geteilt.

© Tim Grossmann 2021-05-26

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