Das Klavier

Tara Sophie Kaletsch

von Tara Sophie Kaletsch

Story
2003 – 2021

Das Klavier im Wohnzimmer steht seit Jahren in der selben Ecke. So, dass, wenn man spielt, rechts hinter einem die Gartentür offen stehen kann und sich das Summen und Brummen, das Rauschen und Zwitschern im Sommer zwischen die Tastentöne schleicht. So, dass, wenn man spielt, im Winter, vor jener Tür zum Garten genügend Platz ist, für den Weihnachtsbaum. So, dass man vom Sofa und auch vom Esstisch aus gut zuhören kann. Auf dem Klavier steht seit ich denken kann, der Engel mit seiner Kerze, die eigentlich nur zur Weihnachtszeit brennt. Da stehen Bilder von uns allen und manchmal Blumen. Auf dem Klavier sammeln sich seit jeher kleine und große Dinge. Da liegen zwei Schrauben, die nirgendwo richtig hingehören. Da liegt ein Haargummi, gläserne Perlen aus einem Armband, das kaputt ist. Ein abgekaufter Bleistift um die Fingersätze einzutragen, ein Plektrum für Papas Gitarren, ein Deckel von dem keiner weiß, wohin er gehört und ein bis zwei Kieselsteine und manchmal Kastanien oder Walnüsse.

Hier, um das Herz des Hauses, versammeln sich seit jeher Menschen und Tiere. Die Nachbarskinder, die sich ausprobieren und Weihnachtslieder singen. Meine Klavierschülerinnen und Schüler, die ihr erstes Konzert geben. Noemi, Zoe und Leah, die mit mir singen. Mein Großvater mit seiner Geige. Linus, der ganz still neben mir auf dem Boden sitzt und zuhört, wie ich spiele. Meine kleine Schwester, die sich einen zweiten Stuhl holt und Stunden über Stunden mit mir singt und mich damit glücklicher macht, als sie es je begreifen wird. Robin, aus dem Haus nebenan, der stolz vorspielt, was er neu geübt hat. Mein kleiner Bruder, dem ich einen Teil seiner Liebelingsmelodie beigebracht habe, die er jetzt immer mal wieder spielt. Mein Vater, der mich fragt, ob ich ihm mit den Akkorden helfen kann. Meine Mutter, die immer, wenn sie improvisiert, einen Walzer spielt. Und Merlin, der zu meinen Füßen vor sich hin döst.

Ich habe hier viel geweint, aus Freude, aus Trauer und aus Wut. Ich habe hier viel nachgedacht und nachgefragt. Ich habe hier oft gesessen und meine ganze Liebe in die Räume hineingespielt. Habe schützende Töne um die Mauern des Hauses und über jeden Kopf unterm Dach gebunden.

Zwischen zerfledderten Notenblättern und Staub, zwischen all den Menschen, den Jahreszeiten, den Bildern von uns, den Jahren, die ich hier lebte. Zwischen den Erinnerungen, dem Herzschmerz und der Glückseligkeit war das hier immer mein Zuhause.

Mein Klavier.

© Tara Sophie Kaletsch 2022-04-04

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