Das kleine Zirkuspferd

UlyaDobro

von UlyaDobro

Story

Es gab einmal einen Zirkus, der war für seine spektakulären Pferdenummern bekannt. Die Tiere dort hatten ein gutes Leben. Sie kannten keine Peitschenhiebe und nie knurrte ihnen der Magen in der Nacht. Jeden Abend wusch man ihr Fell und gab ihnen etwas zu naschen. Aber noch süßer als die Zuckerwürfel und der blumige Duft des Shampoos war es, das Rampenlicht zu kosten und im brausenden Applaus der jubelnden Menge zu baden.

In diesem Zirkus kam ein Fohlen zur Welt. Kaum stand es auf den Beinen, begann auch schon seine Dressur. Das kleine Pferd gab sich beste Mühe, die Zirkuskunst zu erlernen, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen. Immerzu stolperte es über seine eigenen Hufe, kam aus dem Rhythmus und erstarrte vor Angst, wenn es die Augen des Publikums auf sich spürte. Den Mangel an artistischem Talent konnte das Tier leider auch nicht durch seine äußere Erscheinung ausgleichen. Sein Gesicht war mit eiternden Beulen übersät. Kurz vor einem wichtigen Auftritt bekam es wieder eine, eine besonders große und pochende, mitten auf der Stirn. Das kleine Zirkuspferd schämte sich sehr. Seine Leistung wurde dadurch noch schlechter und dann schämte es sich umso mehr. Eines Abends lag es wieder traurig im Heu, als es plötzlich seinen Namen hörte. Es war der Zirkusdirektor. „Ja, ich werde das Kleine verkaufen. Es sabotiert die ganze Show. Morgen früh bringe ich es zu Farmer Steve.“ Dem kleinen Zirkuspferd gefror das Blut in den Adern. Farmer Steve war ein berüchtigter Mann. Er ließ seine Tiere ackern, bis sie nicht mehr konnten und dann gab er ihnen den Schuss. In dieser Nacht machte das kleine Pferd kein Auge zu. Es schaute in den samtblauen Himmel und bat den Mond um ein Wunder.

Plötzlich hörte es eine Stimme. Eine schöne, tiefe, klare Stimme. Es war niemand vom Zirkus und doch klang sie seltsam vertraut. „Es ist soweit. Komm. Folge mir.“ Das kleine Pferd lief los, ohne zu wissen wohin. „Sehr gut. Lauf weiter. Komm, komm zu mir.“ Die Stimme wurde immer lauter. Das kleine Pferd achtete kaum auf den Weg und als es aufblickte, stand es mitten in einer Waldlichtung. Da raschelte es im Dickicht und es trat jemand hervor. Dem jungen Pferd blieb das Herz stehen. Vor ihm stand das schönste Tier, das es je gesehen hatte. In langen, silber glänzenden Wellen fiel die Mähne um den wohlgeformten, stolzen Kopf. Wie ein König stand es auf gewaltigen, unbeschlagenen Hufen. Anstelle der Krone prangte ein langes, mächtiges Horn auf seiner Stirn. Aus tiefdunklen, wissenden Augen betrachtete es das kleine Wesen vor seinen Nüstern. Das kleine Zirkuspferd verbeugte sich, bis die Grashalme es am Kinn kitzelten. Das Einhorn wieherte ihm freundlich zu.

„Da bist du ja.“ Es war die Stimme, die es im Stall gehört hatte. Wie Musik aus einer süßen, fernen Zeit. Das kleine Zirkuspferd brachte kein Wort heraus. Es wollte weinen, doch diesmal würden es nicht die bitteren, ihm so vertrauten Tränen sein, diesmal wären sie frisch und leicht wie der Morgentau. Das Einhorn blickte es etwas schmunzelnd an. „Sei willkommen, junger Freund. Ich freue mich, dass du gekommen bist. Es ist ein bisschen viel am Anfang, ich weiß.“ Das kleine Pferd nickte und das Einhorn gab wieder ein fröhliches Wiehern von sich. „Du gewöhnst dich schon daran. Nun, was sagst du. Brechen wir auf?“

© UlyaDobro 2025-06-09

Genres
Romane & Erzählungen