von Hanspeter Gsell
Als Maggie Heckhorn am frühen Morgen des 17. Dezembers erwachte, konnte sie noch nicht ahnen, dass ihr der aufregendste Tag ihres Lebens bevorstand. Eben noch hatte sie die Gäste ihres kleinen Resorts zum Frühstück begrüßt, als von der hinteren Seite der kleinen Insel Zeter und Mordio zu hören war. Als sie sich auf den Weg machte, dessen Ursprung zu erkunden, kam ihr Silas entgegen. Dieser war nicht nur ein treuer Mitarbeiter, sondern auch ein kundiger und umsichtiger Verwalter der insularen Traditionen.
«Maggie, wir brauchen ein Huhn, rasch!», rief er atemlos.
«Beruhige dich Silas, weshalb – um Himmels willen! – brauchst du denn ein Huhn?»
«Wir müssen Salty fangen, es wollte heute Morgen meine Großmutter fressen!»
Da Maggie die alte Frau über alles schätzte und auch verehrte, holte sie, ohne weiter nachzufragen, ein tiefgefrorenes Huhn aus dem Kühlhaus und folgte Silas auf die andere Seite der Insel, wo eine kleine, von Mangroven gesäumte Lagune lag. Maggie setzte sich auf den alten Bootssteg und beobachtete, wie Silas das Huhn an ein dickes Tau band, im Huhn selbst steckte ein riesiger Angelhaken.
Mit diesem Köder an der Angel bestieg er eine Mangrove, ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen. Oben angelangt, knotete er das Seil um einen Ast, sodass das tote Huhn knapp über der Wasseroberfläche zu schweben kam. Maggie hatte keine Ahnung, ob sich Salzwasserkrokodile wirklich angeln ließen, vertraute indes Silas und begab sich auf den Rückweg zum Hotel.
Sie hatte die Angelegenheit schon längst vergessen, als Silas in ihr Büro stürzte.
«Wir haben einen Hai gefangen!»
Auch das noch, dachte sich Maggie. Wie viele Male hatte sie ihren Mitarbeitern schon eingeschärft, Haie seien geschützt und dürften aus diesem Grund nicht gefischt werden. Als sie Silas darauf ansprach, meinte dieser lapidar: «Er hat sich selbst gefischt! Der Hai wollte dem Krokodil das Huhn klauen! Jetzt baumelt er in den Mangroven! Was sollen wir tun?» Maggie wusste, dass ihre einheimischen Mitarbeiter Haie nicht aßen, und trug Silas auf, das Tier ins Nachbardorf zu bringen.
Maggie war sichtlich froh als das Langboot um die Ecke gebogen war. Morgen erwartete man nämlich den Besuch des berühmten Meeresbiologen und Fotografen Dr. Friedrich Huttenschnabel. Er sollte im Auftrag einer Naturschutzorganisation über die großartigen Erfolge der Insel beim Schutz der Haie berichten. Ein hängender Hai im Mangrovensumpf hätte wohl eine schlechte Visitenkarte abgegeben.
© Hanspeter Gsell 2021-04-08