Das Labor – Teil 1

Anna-Maria Noller

von Anna-Maria Noller

Story

Eisiger Wind pfiff um die Ecken des klobigen Gebäudes. Ein unheimliches Heulen hallte dabei durch die finstere Nacht. Wild wirbelnd tanzten dicke Schneeflocken durch die Lüfte. Während draußen die Welt unterzugehen schien, schüttete Aser das gefriergetrocknete Kaffeepulver in ihre pinke Lieblingstasse und füllte diese mit sprudelnd kochendem Wasser auf. „Kyle“, sagte sie, während sie mit einem Löffel den selbstgebrauten Kaffee umrührte, „wie viel Grad hat es draußen?“

„Im Moment herrschen draußen -53 °C“, antwortete eine männliche Stimme.

„Und drinnen?“

„Meine Sensoren melden +22 °C. Ich gebe mein Bestes, die Temperaturschwankungen unter einem Grad zu halten.“

Aser schlürfte kurz an ihrem Heißgetränk. „Danke, Kyle. Du bist ein Schatz.“

„Das Kompliment gebe ich sehr gerne zurück, Asereth.“

Kyles Charme ließ Aser ein verschmitztes Lächeln über die Lippen huschen. Mittlerweile wunderte sie sich gar nicht mehr, dass eine künstliche Intelligenz oft besser kommunizieren konnte als ein Mensch.

Nachdem sie ihren Kaffee zu Dreivierteln ausgetrunken hatte, ging Aser aus der kleinen Küche hinaus in den noch schmaleren Gang und bog nach wenigen Metern rechts ab. Schwungvoll schlüpfte sie in ihren weißen Kittel, knöpfte ihn zu und begann in ihrem Laborbuch zu blättern. Danach widmete sie sich wieder ihren Experimenten.

Gerade ließ Aser eine ihrer Proben in einem Glaskolben destillieren, da dröhnte eine verärgerte Stimme durch den Gang: „Aser! Zum tausendsten Mal: Lass dein benutztes Geschirr nicht überall herumstehen!“

Augenrollend rief Aser zurück: „Den Kaffee trink ich noch, Namar.“ Obwohl sie genau wusste, wie sehr ihr wissenschaftlicher Assistent es hasste, hinter ihr herzuräumen, änderte sie nichts an ihrem Verhalten. Schließlich war sie die Chefin.

„Nach dem Motto: Kalter Kaffee macht schön, oder wie?“

„Das hat die liebe Asereth definitiv nicht nötig“, ging Kyle dazwischen.

„Danke, Kyle. Wenigstens gibt es einen Gentleman hier drinnen.“

„Kyle hat doch keine Augen. Woher soll er das einschätzen können?“ Namar war in der Zwischenzeit in Asers Labor gegangen und lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen. Allerdings wollte er keinen Streit mit seiner Vorgesetzten vom Zaun brechen, deshalb schielte Namar auf Asers Apparaturen und fragte: „Schon etwas gefunden?“

„Ich bin mir nicht sicher … “, antwortete Aser, während sie eine weitere aufgereinigte Probe in das Massenspektrometer steckte.

© Anna-Maria Noller 2022-05-30

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