Das Lächeln der aufgehenden Sonne

Oliver Leitsberger

von Oliver Leitsberger

Story

Liebe Mutter,

im Laufe meiner Entwicklung zu einem erwachsenen Mann, erkannte ich Vorgänge in meinem Fühlen, Denken und Handeln, die nichts als Schmerz, Wut und sogar Hass hervorbrachten. Diese veranlassten mich, mir selbst wieder und wieder im Weg zu stehen. Es ist für mich ein unerlässliches Vorgehen, diesen Vorgängen auf die Spur zu kommen.

Ich muss etwa acht Jahre alt gewesen sein. Vater und du unterhieltet euch im Wohnzimmer. Da es bereits spät war, lag ich im Bett und versuchte zu schlafen. Doch wurde ich von eurem aggressiven Sprechverhalten, dessen Inhalt ich nicht hören konnte, davon abgehalten. Es war eine Situation, die einen dichten und bedrohlichen Nebel über mein seelisches Wohlbefinden warf. Irgendwann ging eure Unterhaltung in einen Vernichtungskrieg von Anschuldigungen und Beleidigungen über, die ich mittlerweile aufgrund der steigenden Lautstärke auch inhaltlich mit verfolgen konnte. Dieser Krieg wurde schließlich von mir durch einen Schrei aus Angst und Verzweiflung unterbrochen. Als ihr zu mir kamt, verkauftet ihr euren Krieg als ein harmloses Gespräch, das lediglich zur Klärung von Meinungsverschiedenheiten gälte. Ihr habt mir etwas vorgespielt, was nicht der Wahrheit entsprach, mit dem Ziel, eure eigene missliche Lage schönzureden. Ihr konntet eure Selbsttäuschung nicht durchschauen und kamt somit nie auf die Idee, in dieser und anderen solcher Situationen euer Verhalten mir gegenüber selbstkritisch zu überdenken. Ich wurde zum Außenseiter innerhalb unserer zerbrochenen Familie. Wir alle hatten keine gemeinsame Sprache, weil euer eigenes erfahrenes Leid euch erblindete und unfähig machte, mein Leid zu sehen. Erst später begriff ich, dass ihr alle Hände voll zu tun hattet, den in eurer Kindheit durchlebten Vernichtungskrieg zu vergessen und endlich wieder Boden unter den Füßen zu spüren.

Ich bin mir sicher, dass dir meine Schilderungen und Ansichten nicht fremd sind, selbst als Tochter einer Mutter und eines Vaters. Darin erkenne ich unser aller Schicksal. Es lässt sich nicht leugnen, dieses Leid ist Teil unserer Leben. Deine Kraft, dein Leid zu ertragen, weckte in mir den Mut, die Reise meiner eigenen Wahrheit zu neuen Ufern über die stürmische und raue See des Lebens in die Tiefen meiner Seele anzutreten. Ich folgte dem Licht am Ende des Horizonts und ging so weit über mich selbst hinaus, wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Wir alle sitzen in einem Boot, gebaut für diese besondere Reise. Ohne den Mut, die ach so wunderbare eigene Wahrheit zu erkennen, wird alle Chance zur Unmöglichkeit.

Während ich hier sitze und dem Lächeln der aufgehenden Sonne entgegensegle, wird mir klar, es liegt in meiner Macht, was ich mit der Zeit anfangen will, die mir gegeben ist. Welchen Schönheiten auch immer du gerade entgegensteuerst, dieser Brief erreicht dich hoffentlich baldigst auf deiner Reise in den Weltmeeren des Lebens.

Dein Sohn

© Oliver Leitsberger 2021-03-28

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