von Lara Tecklenborg
Vorsichtig tapse ich von einem Fels zum nächsten, in der Hoffnung, dass ich nicht abstürze. Meine Beine sind zittrig. Ich wage es kaum, hochzuschauen. Meine Blicke liegen einzig und allein auf meinen bereits von Schlamm, Gräsern und Regen gezeichneten Wanderschuhen. Ein Schritt vor den anderen. Bloß nicht stolpern, nicht umdrehen, einfach weitergehen. Mein Herz pocht und pocht, meine Lunge versucht sich noch weiter auszubreiten, doch der Raum ist begrenzt: Ich komme an meine Grenzen. Ich darf nicht zu viel nachdenken. Ich muss einfach weitergehen. Schritt für Schritt. Dann spüre ich zarte Windböen in meinem Gesicht. Zunächst nur ganz leicht. Dann werden sie immer stärker und stärker. Es wirkt, als wollten sie mich festhalten und gleichzeitig umstoßen, damit ich nicht weitergehe. Dann läuft ein kühler Tropfen über meine Schläfe, meine Wange und zu meinem Kinn hinunter. Es folgen mehr. Sie überlaufen meine Stirn, meine Nase, bis es heftig regnet. Ich setze mir die Kapuze meines dunklen Regenparkas auf. Doch keine Chance: Der Wind ist stärker. „Ich darf nicht aufgeben“, sage ich mir immer wieder. Dann halte ich für einen Moment inne. Ich weiß, ich wollte es nicht, aber ich drehe mich um und überlege, umzukehren: eine Sache der Unmöglichkeit, denn hinter mir hat sich der Pfad in eine undurchdringliche Wand aus Regen und Dunkelheit verwandelt. Kein Zurück. Nur das Vorwärts zählt. Ein tiefer Atemzug. Ich zwinge meine Beine, weiterzugehen. Auch wenn sich jede Stelle meines Körpers eiskalt anfühlt, sich das Zittern von meinen Beinen aus über meinen gesamten Körper ausgebreitet hat. Der Regen peitscht in mein Gesicht. Und trotzdem mache ich weiter.
Plötzlich, wie aus dem Nichts, lichtet sich der Sturm. Die Wolken klären auf und ich sehe einen strahlend blauen Himmel. Die Sonne kommt durch und wärmt mit ihren sanften Strahlen mein Gesicht. Ich schließe für einen Moment die Augen. Ich blinzele, dann nehme ich zum ersten Mal seit Stunden die Schönheit der Landschaft um mich herum wahr. Die grünen Hügel, die glitzernden Regentropfen auf den Blättern und das Rauschen des Wassers, das sich in Form eines kleinen Baches seinen Weg ins Tal bahnt. Mit neuer Kraft setze ich nun meinen Weg fort und jeder Schritt fällt mir leichter. Der Pfad führt durch ein kleines Waldstück. Bald erreiche ich eine Lichtung. In der Mitte steht eine knorrige Eiche, deren Äste sich weit in den Himmel recken. Am Stamm des Baumes befindet sich eine kleine Bank. Ich setze mich, lasse den Rucksack von meinen Schultern gleiten und nehme einen großen Schluck Wasser. Mein Atem beruhigt sich und auch mein Herz schlägt langsamer.
Ich lasse die letzten Stunden Revue passieren und mir wird klar: Die größte Herausforderung war nicht der Weg an sich, das Unwetter oder die körperliche Anstrengung. Es war meine Angst. Aus der Komfortzone auszutreten, ist nie leicht. Aber ich habe es geschafft. Deshalb sitze ich jetzt auf dieser Bank, genieße das Zwitschern der Vögel, das Rauschen der Äste, angeschubst vom Wind, und schaue für ein paar Minuten einfach nur in eine atemberaubende Berglandschaft. Nach einer Weile stehe ich auf, schnüre meine Wanderschuhe fester und setze meinen Weg fort. Während ich die Lichtung verlasse, lächle ich aus vollstem Herzen und gehe Schritt für Schritt weiter.
© Lara Tecklenborg 2024-08-02