Das lachsfarbene Abendkleid

Hermann Karosser

von Hermann Karosser

Story
Pfarrkirchen, Wismar, Neumarkt 1973 – 2025

Marianne und Matthias hatten zur Feier ihrer goldenen Hochzeit eingeladen. Unter den GĂ€sten einige, mit denen meine Frau tatsĂ€chlich das letzte Mal vor 50 Jahren, also bei der Hochzeit in Wismar und auf Poel, Kontakt hatte. „Mensch, Renate, das gibt’s ja nicht, dass wir uns nochmal begegnen in diesem Leben. Aber ich erinnere mich noch gut an dich, rank und schlank, in diesem fantastischen lachsroten Abendkleid!“ … da war es ’raus. Plötzlich war die Rede nur noch von diesem Kleid, das sie damals trug und das sich offensichtlich bei so vielen ins GedĂ€chtnis eingeprĂ€gt hatte. Sie wusste nicht recht, sollte sie stolz oder beleidigt sein, weil sie nicht sie, sondern das KleidungsstĂŒck so bewunderten. Egal, es ist lange her und eigentlich war es ganz lustig zu hören, womit man in seiner Jugend so Eindruck schinden konnte. Dabei fĂŒhlte Renate sich damals mit 19 gar nicht unbedingt wohl in dem Kleid, ein bisschen overdressed sogar, eine Situation, in die sie die Schwester des BrĂ€utigams gebracht hatte, aber dazu spĂ€ter mehr.

Zwei Jahre zuvor hatten Renates Eltern den notwendigen Kauf eines angemessen festlichen Abendkleides fĂŒr ihren Tanzkursabschlussball am Gymnasium zum Anlass genommen, einen Ausflug nach Regensburg zu unternehmen, zum ‚Shopping‘ wĂŒrde man heute sagen. ZurĂŒck nach Hause kamen sie mit einem klassisch geschnittenen langen Kleid, das ihr passte, wie angegossen, will heißen: ihre tolle Figur so richtig schön betonte. Bis zu jener denkwĂŒrdigen Goldenenhochzeitsfeier hĂ€tte sie es gar nicht ‚lachsfarben‘ beschrieben, sondern eher rot oder orange, aber wenn man die Fotos von seinerzeit so betrachtet, kommt die Farbe vom Lachs schon am ehesten hin.

Fleißige TĂ€nzer, wie Renate und ich damals waren, kam das Kleid natĂŒrlich nicht nur beim Tanzkurs zum Einsatz, sondern auch auf Stadt- und SportlerbĂ€llen und dann war da diese Einladung zur Hochzeit an der Ostsee. Einen Dresscode gab es nicht, darum packte sie einen selbstgeschneiderten schwarzen Rock ein mit eingenĂ€hten Spitzenstreifen, klassisch, aber auch ein wenig romantisch, jedenfalls nicht zu elegant. Um aber auf alle EventualitĂ€ten vorbereitet zu sein, nahm sie zusĂ€tzlich ihr rot/orange/lachsfarbenes langes Kleid mit auf die abenteuerliche Reise quer durch die Nation hinein in die DDR, deren Verlauf genĂŒgend Stoff fĂŒr eine eigene Geschichte hergĂ€be. – Auf Poel, zur Hochzeitsfeier, hatte sie sich fĂŒr den schwarzen Rock entschieden. Alle weiblichen GĂ€ste waren in ‚lang‘ gekommen. Da traf sie auf Sibylle, Matthias’ Schwester, die das nicht hat kommen sehen und nur ‚kurzes‘ im GepĂ€ck hatte. GroßzĂŒgig kam Renate ihr entgegen, trat ihr den langen Rock ab und wĂ€hlte notgedrungen das lachsfarbene lange Kleid, mit dem sie so großen Eindruck machte … wie sich 50 Jahre spĂ€ter herausstellen sollte.

Schließlich fand das denkwĂŒrdige KleidungsstĂŒck irgendwann ganz den Weg in die DDR, denn, wie wir bei der goldenen Hochzeit auch erfahren haben, landete es nicht in der Kleidersammlung, sondern Renates Mutter legte es einem ihrer zahlreichen Pakete an die ‚Ostverwandtschaft‘ bei, womit sie einer Nichte des BrĂ€utigams damals noch eine große Freude bereiten konnte.

© Hermann Karosser 2025-07-08

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