Das Land der Fast-Rekorde

Story

Die tiefste Schlucht der Welt ist bekanntlich der Grand Canyon, aber was dann in diesem Ranking folgt, ist recht umstritten. In Europa dürfte die Tara-Schlucht die tiefste sein, obwohl unklar ist, wie man so etwas eigentlich messen soll, denn nicht immer ist es so eindeutig wie beim Grand Canyon, der einen senkrechten Einbruch in einer Ebene darstellt. Und die “Tara-Schlucht” ? Wo soll denn das sein, werden sich viele jetzt fragen. Tara assoziieren viele eher mit “Vom Winde verweht”, aber weit gefehlt! Die Tara-Schlucht liegt in Montenegro, und die stolzen Montenegriner wissen natürlich ganz sicher, dass ihre Schlucht die tiefste Europas ist. Wie dem auch sein mag, in jedem Fall ist die Tara-Schlucht, die vom gleichnamigen Fluss gebildet wurde, eines der spektakulärsten und zugleich unbekanntesten Naturwunder Europas. Beeindruckend sind das wirklich und wahrhaftig smaragdgrüne Wasser des Flusses und die steilen Felsen in den “schwarzen Bergen”, die in Wahrheit eher sehr dunkelgrün sind, spektakulär sind die Blicke in die Tiefe, die gewundene Straße, die auf etwa halber Höhe durch den Canyon führt, und die Tara-Brücke, die den Fluss an einer besonders idyllischen Stelle mit weiten Bögen überspannt.

Und noch einen Fast-Weltrekord hat das kleine Land am Balkan zu bieten, denn – man höre und staune – die Montenegriner sind die im Durchschnitt zweitgrößten Leute weltweit, wenn man vielleicht von den Massai absieht, die aber keinen eigenen Staat haben. Nur die Niederländer sind einen Hauch größer und das auch nur bei den Frauen, aber die selbstbewussten Montenegriner behaupten natürlich, sie seien die größten der Welt, denn in Montenegro ist man noch ganz ungeniert Macho und ignoriert den winzigen Rückstand.

Die Montenegriner sind aber nicht nur sehr stolz und selbstbewusst, so wie man sich die Söhne des wilden Balkans eben im Klischee vorstellt, sie haben auch eine gute Portion Humor und Selbstironie, denn sie bezeichnen sich selbst als die faulsten Leute des ehemaligen Jugoslawiens und haben eine Liste der “10 Gebote für Faulpelze” erstellt, die sie sogar auf vielerlei Souvenirs abdrucken. Montenegro ohne Rekorde, das geht offenbar nicht.

Und so gibt es in einem Bergdorf im äußersten Nordwesten des Landes tatsächlich einen mittlerweile international bekannten Wettbewerb im faul Herumliegen. Die Vorjahresssiegerin lag letztlich 117 Stunden, wobei man die früher noch strengeren Spielregeln dahingehend geändert hat, dass man jetzt nach jeweils acht Stunden kurz aufstehen darf. Man kann sich vorstellen, wozu. Aber auch acht Stunden sind lang.

Ich suche jetzt übrigens nach den mir bislang unbekannten Montenegrinern in meinem Stammbaum, denn auch ich bin eine hochbegabte Herumliegerin und ziehe ernsthaft in Erwägung, nächstes Jahr an diesem Wettbewerb teilzunehmen, um so mit Nichtstun 300 Euro zu verdienen. Deshalb werde ich also kräftig weiter üben, aber vermutlich werde ich zu faul zum Hinfahren sein.

© 2022-06-13