Das lange Warten

DasWildeRudel

von DasWildeRudel

Story

Im engen barocken Wohnzimmer der Uroma ist es mucksmäuschenstill. Die Verwandten sitzen ungewöhnlich ruhig und fast ein wenig starr auf ihren unbequemen Holzstühlen um den runden, mit Spitzenhäkeldecke geschmückten, Tisch. In der Luft hängt der kalte Rauch der nachts verbrannten Kohle und ein schwacher Dunst des am Vorabend konsumierten Alkohols. In diesem Zimmer warten wir auf die erlösende Nachricht.

Zu anderen Zeiten geht es hier freudiger zu. Die Tante tanzt gelegentlich mit der Flasche süßen Wermuths in der Hand auf dem knarrenden Tisch und wir hindern sie gerade noch am Total-Striptease. Die Tochter der Uroma, also die Schwester meiner Großmutter, gießt fröhlich kichernd der Verwandtschaft die Gläser immer wieder voll, während die Uroma unendlich lange Gedichte rezidiert. Sie kann zwar kaum noch laufen, nicht alleine essen oder sich selbst waschen, aber im Gedichte aufsagen kann ihr niemand das Wasser reichen.

Großmutter ist ein wenig mehr die feine Dame und ziert sich, über die dreckigen Witze ihres Arbeiter-Bruders zu lachen. Am Ende lachen trotzdem immer alle. Die ganze große Verwandtschaft kringelt sich, wenn Honnis Arbeiter- und Bauernstaat ins rechte Licht gerückt wird. An diesem Tag kringelt sich niemand, das Warten schickt uns in die angespannte Stille.

Gestern hat der Motor unseres VW-Käfers schlapp gemacht und obwohl es in diesem schwer bewachten Teil unseres Landes sehr viele außergewöhnlich kreative Bastler gibt, so ist es unmöglich einen Motor für unseren Käfer zu basteln. Das ist der Grund warum meine Mutter an diesem Morgen zur doppelt und dreifach mit Minen gesicherten Grenzanlage gebracht wurde, wo sie angeblich einen Motor aus dem Westen entgegen nehmen darf, damit wir später wieder heim fahren können. Wir sitzen schweigend am Tisch und beten, dass alles klappt wie geplant.

Wir Schwestern haben Angst nie mehr nach Hause in den Westen zu kommen, nie mehr unsere Meinung mitten auf der Straße sagen zu können, nie mehr überallhin reisen zu können und möglicherweise den Rest unseres Lebens von Thüringer Klößen mit Roulade und Rotkohl leben zu müssen. Letzteres wäre dabei nicht einmal das Schlimmste gewesen. Doch dann klingelt das geteilte Haustelefon im Flur, meine Mutter meldet sich und berichtet, sie habe den Motor dabei und sei jetzt auf dem Weg zu uns.

Das lange Warten hat ein Ende und an diesem Abend tanzt Mutter mit der Tante auf dem Tisch.

© Mariefu

© DasWildeRudel 2021-08-27