Das Leben als Zugfahrt

Anna Theresa Schreiber

von Anna Theresa Schreiber

Story

„Das ganze Leben ist eine Zugfahrt.“

Das hatte Mariella, die Betreuerin des Bahnhof-Katers Kobold zu Ingo gesagt. Seitdem hatte der alte Schaffner, der vor langer Zeit zwei Semester Philosophie studiert hatte, oft ĂŒber diese Weisheit nachgedacht.

Heute saß Mariella mit Kobold im Zug. Ingo nutzte diesen glĂŒcklichen Zufall und stellte bei seiner nĂ€chsten Durchsage die Philosophie des Zugismus vor:

„Verehrte FahrgĂ€ste, sie befinden sich auf der Reise im Zug des Lebens. Hier begegnen Sie Passagieren, die an den verschiedenen Stationen ihrer Biografie ein- und aussteigen, manche Reiserouten Ă€ndern sich und so auch die Landschaft, die wir fĂŒr unser Leben, unsere RealitĂ€t halten. Mal gibt es VerspĂ€tungen, dann geht es in atemberaubender Geschwindigkeit voran. Wenn Ihnen die Landschaft nicht gefĂ€llt, können Sie das leider nicht Ă€ndern. Umsteigen ist möglich, aber wer sagt, dass es in einem anderen Zug besser wird? Manchmal ist Endstation – Sie sind vielleicht dennoch noch nicht am Endziel und mĂŒssen sich nun ein neues suchen.

Auch wird man kaum zu den Mitreisenden sagen können: ŽAch, fahr doch noch ein Weilchen mit! Ja, du willst hier aussteigen und diese Stadt besichtigen, hast schon alles gebucht, aber du bist so nett und deshalb bestehe ich darauf, dass du auch weiterhin mitkommst!Ž

Ein Versuch, der dazu fĂŒhren kann, dass unentschlossene Reisende doch einwilligen und Sie jetzt die gefĂŒhlte Verantwortung fĂŒr den Rest der Reise und alle möglichen Komplikationen tragen.

Es gibt auch jene Mitreisenden des Typus, den man sich möglichst schnell wieder wegwĂŒnscht, welcher aber erst etliche Stationen spĂ€ter umsteigt – und den Bahnreisenden eine so große Last wie das GepĂ€ck ist, das sie dauerhaft mit sich herumschleppen.

Manchmal erfĂ€hrt man auf der Reise eine neue Erkenntnis durch die Mitreisenden oder aus der Zugzeitschrift, manchmal gibt es nur Klatsch und Tratsch. Auch wenn man die Klasse wechselt, es bleibt der gleiche Zug. Warum ist das Leben keine Busfahrt? Im Bus haben Sie den Überblick ĂŒber sĂ€mtliche Mitreisenden, im Zug bleiben Ihnen viele Menschen verborgen, die ebenfalls unterwegs sind.

Wie könnten Sie beeinflussen, ob die Innenausstattung im Abteil gemĂŒtlich, die Landschaft schön, die Mitreisenden freundlich sind? Dass alle so lange mitfahren, wie es Ihnen beliebt? Es gibt jedoch andere Dinge, auf die wir durchaus Einfluss haben. Auf unser Ziel, die Art des Zuges, in den wir steigen und zu wem wir uns ins Abteil setzen. Dennoch bereuen wir manchmal unsere Entscheidungen. Schielen zum ICE vom Nachbargleis, wĂŒnschen uns an den Bahnhof, an dem der Zug ignorant vorbeirauschte und Ă€rgern uns, dass wir es nicht in die erste Klasse schaffen, wo alles besser wĂ€re.

Auf keiner Zugfahrt wird man jede Minute genießen. Doch es gibt viel Schönes zu entdecken. Wir sollten uns einfach nicht wĂŒnschen, das zu Ă€ndern, was nicht zu Ă€ndern ist. Sondern unsere Einstellung zur Reise – und gegebenenfalls das Ziel!“

© Anna Theresa Schreiber 2021-04-19

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