von Karin Holländer
Manchmal kommt es anders, als man denkt. Ich besuchte meinen Mann nach einem harmlosen aber notwendigen Eingriff im Krankenhaus. Der Bettnachbar beim Fenster klärte mich auf, er habe die Schwester alarmiert, nachdem er meinen Mann auf dem unterhalb liegenden Flachdach gesichtet habe. Er sei dort spazieren gegangen. Ich bedankte mich bei ihm, dass er das getan hatte, denn niemand sonst hatte dies bemerkt.
Später erfuhr ich, dass er über die gynäkologische Abteilung auf das Dach gelangt sei. Tür fand ich allerdings keine. Also musste der Patient im Nachthemd durch eines der Fenster dorthin gekommen sein. Es war eben keine abgesicherte Terrasse mit normalem Zugang. Gewöhnlich hat ein männlicher Patient auf einer gynäkologischen Station nichts zu suchen, es schien niemandem aufgefallen zu sein.
Ich selbst konnte nicht auf das Flachdach gelangen. Es hatte mich interessiert, ob es ein Zufall gewesen sein könnte, daher sah ich selbst nach. Es war also kein bloßer Irrtum, sondern eine absichtliche Kraxelei, die in ihrer potenziellen Gefährlichkeit nicht bedacht wurde.
Eigentlich hätte ich das beinahe gewohnt sein müssen, denn auch zu Hause sprang der agile ältere Herr schon aus dem Fenster, ohne Schaden zu nehmen, wohl gemerkt, gute zwei Meter tief. Ich habe jedenfalls bis heute keine Lust, das nachzuahmen. Ich schrie seinen Namen, denn ich konnte nicht in den Raum, in dessen Türrahmen ein zweiteiliger Kleiderkasten stand. Alleine war es zu schwer, ihn wegzuschieben. Ich schaute an dem Kasten vorbei in den leeren Raum und staunte nicht schlecht: Es war keiner da. Ich konnte mir das nicht erklären, da der Ausgang durch die Tür verstellt war. Der Fensterspringer war bereits siebzig Jahre alt!
Doch das, was ich mir nicht vorstellen konnte, wurde von dieser Person bestätigt. Er sprang ohne Hilfsmittel und ohne sich zu verknöcheln, eine Meisterleistung. Es schien, als hätte er das ein Leben lang geübt. Für Ungeübte ist von einer Nachahmung dringend abzuraten! Ungläubig hörte ich, was vorgefallen war. Er hatte mich gerufen und da ich nicht schnell genug kommen konnte, hatte er diese Option gewählt. Beinahe konnte ich es nicht glauben, doch eine andere Möglichkeit hatte es nicht gegeben, um den Raum zu verlassen.
Allerdings kann man das einem Patienten mit Liegegips nicht gestatten, durch das Fenster nach draußen zu gelangen. In dieser Lage war ich neun Jahre später. Es ist dumm, wenn solche Impulse zur Gewohnheit werden, das Alter fortgeschritten und die Gesundheit eventuell beeinträchtigt ist. Leider hat dieser Mann auch die Rehabilitation zu ernst genommen und musste mit der Drehleiter vom mehrere Stockwerke hohen Flachdach geborgen werden. Auf meine Anfrage, ihm doch bitte ein anderes Zimmer zuzuweisen, war die Antwort, dass vor allen Fenstern der Zimmer das Dach sei. Wie gemacht für diesen Kletterer, nur wie hätte ich das wissen sollen? Schicksal oder nur ein dummer Zufall? Das weiß ich bis heute nicht so genau.
© Karin Holländer 2020-08-18