von Sonja M. Winkler
Unsere letzte Begegnung liegt noch nicht so lange zurück. Jedenfalls kamst du mir sehr lebendig vor, deshalb stutzte ich ein wenig, als ich am Dreikönigstag dein Mail im Posteingang vorfand.
Es muss im Herbst gewesen sein. Wir waren offensichtlich beide unterwegs zur selben Veranstaltung, einer Lesung in der Urania. Kein Wunder, dich hier anzutreffen. Du bist ja selbst eine Schreibende.
Mir fiel auf, du bewegst dich sehr langsam. Dein Rücken krümmt sich mit den Jahren immer mehr, und jeder Schritt scheint dir Konzentration abzuverlangen. Dank Gehstock, sagst du, bist du noch immer recht mobil.
Unsere erste Begegnung liegt etwa 30 Jahre zurück. Damals besuchten wir beide die Schreibwerkstatt der VHS Stöbergasse. Deine Texte waren wie ein offenes Buch. Schreckliche Erfahrungen lagen hinter dir. Der Mann, um den du dich aufopfernd gekümmert hattest, den du einer moralischen Besserung unterziehen wolltest, war einfach getürmt, ins Ausland, nach etlichen Jahren des Zusammenlebens. Eure Liebe begann mit einem Briefwechsel. Er las sie begierig, deine gestochene Handschrift, als er in Haft war. Er kam frei, und nach langem, zermürbenden Auf und Ab verließ er dich und brachte sich um. Das war das Ende.
Kurz entschlossen gabst du deine Wohnung auf und zogst mit erst 70 in ein Pensionistenheim. Am 6. Jänner 2022 in der Früh kamen von deiner Mailadresse diese Zeilen an 30 Adressaten im Verteiler:
Liebe Verwandte, Freunde, Bekannte,
ihr könnt euch ab sofort nicht mehr an mich wenden, denn mich gibt es nicht mehr. Ich bin tot. Leichenbegängnis wird es keines geben, weshalb auch? Ich habe ja nichts mehr von eurer Gesellschaft. Wenn ihr unbedingt trauern wollt, tut das zuhause in euren vier Wänden.
Ich habe verfügt, dass es keine feierliche Verabschiedung geben wird, weil ich euren Worten nicht mehr lauschen und die Musik, die gespielt wird, nicht mehr hören kann. Die Friedhofsarbeiter werden mir eine tiefe Grube schaufeln, wenn sie Zeit haben. Keiner von euch wird meinem Sarg etwas nachwerfen, keine Rose, kein Schäuferl Erde. Ich gestehe, dass ich diesem Brauch ohnehin nie etwas abgewinnen konnte. Ihr müsst euch weder um Blumenschmuck noch Kränze bemühen, wofür denn auch? Es wird Gras über die aufgeschüttete Erde wachsen. Scheue Rehe werden über dieses Fleckchen Wiese huschen. Vielleicht wird’s auch ein Landeplatz sein für Krähen – und andere schräge Vögel. Rückblickend wundere ich mich, dass ich so lange durchgehalten habe. Mein Leben geizte mit Freuden, und treffender als Moliere kann ich es nicht zusammenfassen: Es war ein schlechter Scherz.
Darunter las ich deinen Namen. Mein erster Gedanke war, dass es zu dir passt, dieses Abschiedsmail. Du hattest dich ja nie gescheut, Menschen vor den Kopf zu stoßen. Bevor ich eine Antwort abschickte, erreichte mich ein Schreiben der Nichte: Tantchen habe das Mail versehentlich versandt. (Ja, wer’s glaubt! Ich nicht.) Sollte sie euch einen Schrecken eingejagt haben, bedaure sie es. Sie sei wohlauf.
© Sonja M. Winkler 2022-01-10