von Manfred Voita
Ich wollte nicht schreiben. Jedenfalls nicht, wenn es bedeutete, einen Griffel in die Hand zu nehmen und damit Zeichen auf eine Schiefertafel zu kratzen. Der Wechsel zum Füllfederhalter machte es mir nicht leichter, denn dieses Schreibgerät konnte Kleckse produzieren. Hätte ich damals schon Murphys Law gekannt, wäre mir klar gewesen, dass Tinte immer erst ganz am Ende der Seite, wenn der Text so gut wie fertig geschrieben ist, aufs Papier tropft. Die großflächigen blauen Sprenkel auf meinen Arbeiten hinderten meine Lehrer aber nicht daran, ihre eigenen Anmerkungen daneben zu setzen. Ich überlegte sogar, mit roter Tinte zu schreiben, weil alle, die sich mit meinen schriftlichen Leistungen befassten, das ja auch taten. Kurz: Ich schrieb weder schön noch richtig.
Ein Klassenzimmer in einer weißgetünchten zweistöckigen Volksschule. Meine Klasse befand sich im Erdgeschoss. In der ersten und zugleich obersten Etage saßen die Großen, also das fünfte, sechste, siebte und achte Schuljahr. Das Neunte war noch nicht eingeführt. In der Eingangshalle, von der eine breite Treppe nach oben führte, stand ein großer weißer Kasten, der wie diese riesigen amerikanischen Kühlschränke aussah und sich auch so öffnen ließ, nur dass die Schulmilch und meine Tüte Kakao dort gewärmt statt gekühlt wurden – und ich hasste warmen Kakao. Den Fußboden zierte eine Windrose, keine Ahnung, warum ich mir das gemerkt habe. Der morgendliche Fingernagel- und Taschentuchappell auf dem Schulhof war wieder einmal ohne allzu große Peinlichkeiten beendet, auch gebetet und gesungen wurde schon. Vorn am Pult saß Frau Gretel, eine von allen geliebte Lehrerin, die ich fürchtete wie Hänsel die Hexe.
Wieder einmal hatte ich es bis kurz vor Schluss der Unterrichtsstunde geschafft, nur noch ganz, ganz wenig Zeit bis zum Pausenklingeln. Gleich würde ich erlöst sein.
„Wir gehen jetzt die Hausaufgaben durch. Ihr solltet einen Aufsatz mit dem Thema „Mein schönstes Ferienerlebnis“ schreiben.“ Sie sah mich an und ich wusste es, bevor sie es sagte.. “Manfred, liest Du bitte vor.“
Wieder ich. Dabei gab es in meinem Heft neben all den Klecksen doch kaum Platz für Aufsätze. Und ich war auch in der vergangenen Stunde an der Reihe gewesen – und hatte meine Hausaufgaben nicht gemacht. Voller Verzweiflung blätterte ich in meinem Heft, als hoffte ich zu finden, was nicht dort sein konnte. Wer erzählte eigentlich immer etwas von der schönen Kindheit? Und dann die Erleuchtung, der Geistesblitz, der Ausweg: Ich las einen imaginären Aufsatz vor. Erfand Satz für Satz eine Geschichte und brachte sie glücklich zu Ende. Schwein gehabt.
„Sehr schön. Liest Du bitte noch einmal von vorn vor.“
Das muss der Moment gewesen sein, in dem mir klar wurde, dass ich um das Schreiben nicht herumkommen würde.
© Manfred Voita 2020-04-12