Das leere Blatt

Nadine Neurath

von Nadine Neurath

Story

Wie jeden Morgen blicke ich auf das geöffnete Word-Dokument. Der Cursor blinkt mich angriffslustig an, während meine ungeordneten Gedanken wie jeden Tag darum betteln, dass sie sich doch bitte, bitte auf das Blatt ergießen dürfen. Wie gerne würde ich ihnen diesen Wunsch erfüllen! Aber mir fällt beim besten Willen nichts Spruchreifes ein, über das ich schreiben könnte.

So starre ich weiter auf das Blatt und das Blatt starrt zurück. Es ist wie bei diesem Spiel, bei dem man nicht blinzeln darf. Leider verliere ich es täglich. Denn so oft und so lange ich das Blatt auch anstiere, es bleibt hartnäckig weiß.

Dabei habe ich doch so viele Ideen! Aber immer, wenn meine Gedanken „Das ist es!“ rufen, erscheint mir meine Eingebung in der nächsten Sekunde als nicht würdig genug, um das Blatt damit um seine heilige Reinheit zu bringen. Auf keinen Fall möchte ich es mit wertlosen Gedanken beschmutzen.

„Es gibt doch eine Löschtaste!“ mault mein Verstand dann jedes Mal, nur um von meinem Herzen mit einem weinerlichen „Aber Löschen fühlt sich wie Scheitern an“ zum Schweigen gebracht zu werden.

Also verharren meine Finger weiterhin untätig in meinem Schoß. Und schauen hilflos dabei zu, wie das Blatt hämisch grinsend eine weitere Runde gewinnt.

Aber heute wollen sich meine Gedanken das nicht mehr bieten lassen. Genug ist genug! Wütend diktieren sie meinen Fingern, was sie dem Blatt schon immer mal sagen wollten: dass jetzt ein für alle Mal Schluss ist mit seiner reinweißen Arroganz und seiner selbstgefälligen Leere. Und dass von heute an jeden Tag Worte auf dem Blatt landen werden, ob es ihm passt oder nicht. Meine Gedanken sprudeln geradezu entfesselt auf die leere Seite, ein Wort jagt das nächste, ein Satz reiht sich an den anderen.

„Stopp!“, ruft mein Auge. „Was ist denn das?“

Meine Finger halten ertappt inne.

Das Blatt ist jetzt gar nicht mehr so weiĂź. Ganz im Gegenteil, applaudiert mein Gehirn anerkennend.

Es ist bereits von oben bis unten beschrieben und scheint gar nicht so unglĂĽcklich darĂĽber zu sein, dass es dieses Mal verloren hat. Und der Cursor? Der hĂĽpft aufgeregt auf die zweite Seite, die es nun kaum erwarten kann, ebenfalls mit Worten geschmĂĽckt zu werden.

© Nadine Neurath 2021-10-14

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