Das Licht meines Vaters

Lucia Bräu

von Lucia Bräu

Story

Mein Vater hat mir früher oft davon erzählt, wie er dem Licht begegnet ist. Ich habe nie wirklich verstanden, wovon er spricht, aber das war auch nie notwendig.

Es hat damit begonnen, dass mein Vater in seinem Heimatort spazieren gegangen ist. Es gab eine Stelle, an der er jedes Mal vorbeikam. Eine Art Grotte, aus der ein Bach mündete, der sich durch den ganzen Ort zog. Die Grotte war durch Bäume und Gebüsche von der Straße aus nicht zu sehen, aber mein Vater hatte sie eines Tages entdeckt. Fasziniert von der geheimnisvollen Höhle ist er hineingegangen. Im Inneren war es dunkel, je weiter er hineinkletterte, desto weniger konnte er erkennen. Allein das Geräusch des Wassers leitete ihn in die richtige Richtung.

Nach einer Zeit aber wurde es wieder heller um ihn herum. Mein Vater dachte zuerst, es wäre eine optische Täuschung, dass ihm seine Augen nur einen Trick spielten, nachdem er sich so lange angestrengt hatte, etwas zu sehen. Aber es wurde immer heller. Das Wasser begann im Licht zu glitzern und mein Vater konnte sich kaum daran satt sehen. Es war, als wäre er plötzlich in eine märchenhafte Welt getaucht.

Alles schimmerte in dem sonderbaren Licht, das von keiner ersichtlichen Quelle ausging. Es war, als würde es ganz von alleine existieren. Mit dem Licht war auch eine seltsame Stille über die Grotte eingebrochen. Das Wasser war nicht mehr zu hören, als hätte es zur Gänze zu fließen aufgehört. Die Schritte meines Vaters hallten nicht mehr von den Wänden wider.

Wenn mein Vater es beschrieb, dann hatte es etwas Beruhigendes an sich. Dann klang es so, als wäre es das Schönste in der Welt, wenn alle Geräusche plötzlich verstummen. Aber wenn ich später darüber nachgedacht habe, fand ich immer, es klingt eher beängstigend. Irgendwie beklemmend.

Mein Vater erzählte die Geschichte immer so fertig, dass er einfach in der Grotte bleiben wollte. Für immer. Aber dass das Licht dann irgendwann plötzlich erloschen ist. Und dass alle Geräusche wieder auftauchten. Er fand sich ganz ohne Vorwarnung auf einmal wieder in der echten Welt. Und obwohl er sich so genau daran erinnern konnte, was passiert war, mit jedem einzelnen Detail, hatte er das Gefühl geträumt zu haben. Dieses Gefühl, dass man sich in einer anderen Welt befindet. Eine, die man nur in Träumen betritt. So hat er es immer beschrieben.

Er ist oft dorthin zurückgekehrt. Jedes Mal ist dasselbe passiert. Und jedes Mal hat er darauf gehofft, dass er dortbleiben könnte.

Das Licht war am Ende das Einzige, was ihm wichtig war. Bevor er gestorben ist, hat er ständig darüber gesprochen.

Ich bin kurz nach seinem Tod zur Grotte gegangen. Ich hatte gehofft, das Licht einmal selbst zu sehen. Ich hatte gehofft, ihn dort zu sehen. Dass er ein letztes Mal dorthin zurückgekehrt ist und geblieben ist.

© Lucia Bräu 2022-08-21