Das Lied der See: 10 – Wo gehöre ich hin?

Amelie Lea Beck

von Amelie Lea Beck

Story

Kaum lasse ich das Meer hinter mir, fließen mir Tränen über die Wangen. Der Horizont beginnt die ersten Strahlen der Sonne hervorzubringen. Ich muss über die Schönheit der leuchtenden Stadt lächeln. Siedendheiß wird mir bewusst, dass ich so schnell wie möglich nach Hause muss. Ich schlüpfe in mein Nachhemd. Ich wechsle meine nasse, kalte Unterwäsche. Mit leichten, schnellen Schritten bewege ich mich in den Schatten durch die Gassen. Zu meinem Glück liegen die meisten Häuser durch die riesigen Mauern in dunklem Grau. Ich schlüpfe durch die noch immer angelehnte Hintertür. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. Ich habe es geschafft. Bevor meine Eltern wach werden, schließe ich die Kückentüre ab. Ich entfache ein neues Feuer im Kamin. Meine feuchte Unterwäsche hänge ich über den heißen Ofen. In einer kleinen Kanne koche ich Tee, während in der Pfanne ein paar Eier brutzeln, die noch von gestern übrig sind. Sobald das Frühstück fertig ist, begebe ich mich noch ein letztes Mal hinaus auf den Weg vor dem Haus. Ich öffne die Tür des winzigen Hühnerstalls, der sich direkt hinter unserem Haus befindet. Jedes Haus der Stadt hat mindestens zwei Hennen und einen Hahn. Schnell fische ich die Eier aus den Nestern und lege sie in den kleinen Korb, den ich am Arm trage. Da wir vor einem Jahr Kücken bekamen, haben wir inzwischen sechs Hennen. Den Hahn, der letztes Jahr geschlüpft ist, haben wir einer Nachbarfamilie geschenkt. Ich lege die Eier in die vom Wasser gekühlte Steintruhe neben der Küchentür. Im Haus angekommen nehme ich meinen Slip von der Wäscheleine. Bereits ein wenig ermüdet lasse ich mich auf meinem Bett nieder. Wenige Wimpernschläge später treten meine Eltern ein. Wir frühstücken gemeinsam. Zu den geratenen Eiern habe ich etwas Brot geschnitten. Gleich nach dem Essen beginne ich mit der Hausarbeit. Leider schaffen es meine täglichen Aufgaben nicht, mich von den Ereignissen der letzten Nacht ablenken können. Immer wieder verliere ich mich in der Vorstellung, wie mich Barhi in einem riesigen Ballsaal in dem wundervollen Schloss herumwirbelt. Wiedermal sehnt sich meine Seele nach dem unbändigen Gefühl der Freiheit. Wiederwillig ziehe ich meinen Haarknoten zurecht. Die Farbe meines Leinenkleides beginnt mich zu stören. Meine Augen suchen auf dem Feld nach einigen bunten Farbtupfern, aber weit und breit ist nur das Braun der Kleider anderer Bauern und die gelben Ähren zu sehen. Selbst der Himmel trägt ein schlichtes Grau. Die Farblosigkeit meiner Umgebung säht Traurigkeit in mein Herz. Ich beschließe heute Nacht wieder in das kühle, feuchte Blau zu tauchen, nachdem ich mich so sehr sehne. Ich male mir in allen Einzelheiten aus, wie mein Leben an Land verlaufen würde. Mutter würde für mich einen Mann aussuchen, der sicher irgendwie zu mir passen würde, aber lieben würde ich ihn wohl kaum. Dazu ein kleines Häuschen mit einem Hühnerstall.

© Amelie Lea Beck 2022-05-14

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