Das Lied der See: 7 – Freiheit

Amelie Lea Beck

von Amelie Lea Beck

Story

Ich löse mich aus Barhis Armen. Schiebe ihn ein Stück von mir weg.

“Zeig mir deine Welt.”, bitte ich ihn. Er nickt schnell. Vorsichtig greift er meine Hand. Barhi zieht mich tiefer ins Meer. Wir verlassen die Küstenregion. Mit langsamen Bewegungen sinken wir immer tiefer. Ich genieße den frischen, salzigen Geschmack des Wassers, das in meine Lungen einströmt. In dieser Sekunde fühle ich mich endlich vollständig. Ein Teil meines Körpers wusste schon immer, dass ich nicht nur an Land gehöre. Je weiter wir ins offene Meer kommen, desto bunter wird die Natur um mich herum. Zu beiden Seiten wachsen bunte Pflanzen, die keine Ähnlichkeit mit den Blumen an Land aufweisen. Sie sind noch bunter, sie scheinen zu leuchten. Ein breites Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht. Ich lasse Barhis Hand los. Langsam schwimme ich auf die Pflanzen zu. Wie von selbst streckt meine Hand sich nach den Blumen aus. Ehe meine Finger die Blume erreichen, verschließen sich ihre Blüten. Erschreckt zucke ich zurück. Doch meine Faszination wird von der plötzlichen Bewegung nicht gebremst. Ich schwimme noch weiter heran. Meine Fingerspitzen streichen über den harten Korpus der Pflanze.

“Avara! Komm sofort zurück.”, Barhis Stimme ist plötzlich herrisch geworden. Sein Tonfall ist erschreckend. Langsam drehe ich mich zu ihm um. Er schaut mich ein wenig wütend an. Doch er ist hauptsächlich besorgt. Er streckt seine Hand nach mir aus. Ich ergreife sie wiederwillig. Er zieht mich weiter. Mit jedem Meter, den wir zurücklegen, sinken wir ein wenig tiefer in den Schlund der Merre hinab. Er wird immer dunkler. Zum Glück scheinen die Meereswandler mit Nachtsicht ausgestattet zu sein. Zumindest kann ich, auch in der Dunkelheit um mich, noch die groben Züge der Korallen in einem sanften Grau erahnen. Plötzlich wird das Wasser wieder heller. Panik steigt in mir auf.

“Wird es schon Tag?”, will ich gehetzt wissen.

“Keine Sorge, Schönheit. Es ist gerade einmal eine Stunde nach Mitternacht. Das Licht kommt von meinem Zuhause. Wir sind gleich da.”, beruhigt mich Barhi sofort. Noch immer etwas nervös folge ich ihm in Richtung des Lichts. Plötzlich ragt ein riesiger Turm vor mir auf. Barhi zieht mich ohne alten daran vorbei. Er bringt mich langsam tiefer. Wir schwimmen zwischen zwei Gebäuden hindurch. Mein Begleiter winkt den Männern im Turm freundlich. Er scheint sie gut zu kennen. Ich versuche mich mit einem höflichen nicken. Leises gelächter ertönt in meinem Kopf.

“Guten Tag junge Dame.“, begrüßen mich die Wächter im Chor. Ich muss Grinsen. Meine Wangen laufen rot an, falls das unter Wassser überhaupt möglich ist.

“Guten Abend.”, erwiedere ich die Begrüßung. Erneut schallendes Gelächter. Bis schließlich Barhis Stimme mir ein wenig beschämt erklärt, die Nacht der Landwesen sei der Tag der Wasserwesen. Scham steigt in mir auf. Ich atme tief durch. Wir lassen das Tor hinter uns. Wie wenn ich durch einen Schleier getreten wäre, erstreckt sich vor mir nun eine neue, andere Welt.

© Amelie Lea Beck 2022-03-30

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