von Esther
Ein tragisches Unglück in meiner Familie ließ mich vorige Woche in ein Loch fallen. Das Loch ist riesig. Zahlreiche andere Menschen sind auch hineingefallen. Dort sind wir nun gefangen. Im Loch gibt es zwar Tag und Nacht, hell und dunkel, aber Zeit und Raum sind aufgehoben.
Manchmal scheint im Loch die Sonne, doch sie wärmt niemanden. An anderen Tagen fällt Regen und man wird nass, doch das spürt man nicht.
Im Loch kann man auch Autofahren. Es erstreckt sich über viele Kilometer. Doch in der Loch-Zeit fahren Fahrzeuge irgendwie von selbst. Man steigt ein, drückt aufs Gas und weiß am Ende nicht mehr, wie man an den Zielort gekommen ist.
Im Loch gibt es auch Geschäfte und manchmal muss man einkaufen gehen. Man sieht gut gelaunte Menschen und fragt sich, wann man selbst wieder zu ihnen gehören wird.
In der Loch-Zeit isst und trinkt man. Doch nie aus Genuss, sondern, um den Körper zu nähren und aufrecht zu erhalten.
Der Schlaf ist ein besonders heikles Thema. Oft kommt er nur mit Schlaftabletten, doch dann fühlen sich die Tage noch betäubter als sonst an. Man träumt verrückte Dinge und wird nachts immer wieder wach. Wenn man dann doch mehrere Stunden am Stück schlafen kann, empfindet man dies morgens als Geschenk.
Im Loch verlernt man sogar das Lesen. Man blickt manchmal in eine Zeitung, doch der Sinn der Sätze, die sich aus den einzelnen Buchstaben zusammensetzen, kommt nicht im Kopf an. Die Leitung ist unterbrochen. So schmeißt man die ungelesenen bedruckten Blätter zum Altpapier. Zeit zum Lesen hat man sowieso keine, da es viel zu tun gibt.
Frauen brauchen sich in der Loch-Zeit nicht zu schminken. Die Tränen würden alles wegwaschen und dann würde man erst recht wie ein Zombie ausschauen. Also spart man sich das Ganze gleich.
Einsatzfahrzeuge auf der Straße lassen einen zusammenzucken. Sirenengeheul Samstagmittag verursacht Herzklopfen.
Tiere haben ein besonders Gespür für Menschen, die ins Loch gefallen sind. Sie weichen einem manchmal nicht mehr von der Seite.
Es wird noch eine Weile dauern, bis ich den Ausgang aus dem Loch gefunden habe oder die unsichtbare Leiter, die es sicher irgendwo gibt, hinaufklettern kann. Bis dahin lebe ich so weiter und versuche, das Loch etwas heimeliger zu gestalten. Ich schneide Blumen ab, positioniere sie liebevoll in einer Vase und stelle sie auf den Tisch. Ich zünde eine Kerze für den Verstorbenen an und hoffe, dass ihr Licht den Raum erhellt. Nur ein klein wenig. Das würde mir schon reichen.
© Esther 2020-06-11