Das Mädchen aus Zimmer 13

Kathrin Wagmann

von Kathrin Wagmann

Story

Der Wind roch nach Salz und alten Versprechen, als Selina am dritten Abend im Hotel an der Steilküste von Sirolo das Mädchen wieder sah. Sie stand reglos im Fenster des gegenüberliegenden Zimmers. Wieder war es Zimmer 13.

Dabei hatte man ihr bei der Ankunft versichert, das Zimmer sei nicht belegt. Und dennoch war da jede Nacht diese Gestalt. Unbeweglich. Starr. Nur die Augen verfolgten Selina, als wollten sie sich in ihre Gedanken bohren.

Am vierten Abend hielt Selina es nicht mehr aus.

Barfuß, in einem Pullover gehüllt, ging sie den schmalen, knarrenden Flur entlang. Vor der Tür von Zimmer 13 zögerte sie. Die Luft war hier kälter. Eine salzige Feuchte kroch durch die Ritzen, als ob das Meer selbst atmete.

Sie klopfte. Keine Antwort. Ein Griff zur Klinke – offen.

Das Zimmer war leer. Doch es roch nach altem Parfüm und einem vertrauten Shampoo, das sie seit Jahren nicht mehr benutzt hatte. Auf dem Bett lag ein einzelnes, zerschlissenes Stofftier: ein Hase mit zugenähtem Auge. Selina griff danach, als ein scharfer Blitz durch ihren Schädel fuhr. Bilder flackerten auf:

Ein Badezimmer. Fliesen, rot gesprenkelt. Eine Badewanne, halbvoll mit Wasser. Und sie – kleiner, jünger – steht in der Tür. Stille. Nur ihr eigener Atem. Dann: ein Schrei.

Sie taumelte zurück, ließ den Hasen fallen. Die Erinnerung war wie ein Riss im Fundament ihrer selbst. Ein Geräusch. Ein Wispern.

„Warum hast du mich vergessen…?“

Selina drehte sich langsam um – und da stand sie. Das Mädchen. Doch jetzt war es keine Fremde mehr. Jetzt erkannte sie den Blick, das kleine Muttermal über der Lippe, den leichten Silberstreif im Haaransatz. Es war ihr jüngeres Ich.

„Du… bist ich.“

„Die, die du weggesperrt hast“, flüsterte das Mädchen. Ihre Stimme war Wind, war Wehklage. „Du hast zugesehen… und vergessen.“

Und wieder die Bilder: Ihre kleine Schwester, tot in der Badewanne. Ein Spiel, das zu weit ging. Ein Unfall. Und Selina, erstarrt vor Angst. Schweigend. Jahrelang.

„Ich habe versucht, dich zu schützen“, stammelte Selina, Tränen in den Augen.

„Du hast mich verraten.“

Der Boden schwankte. Alles drehte sich. Als Selina die Augen wieder öffnete, lag sie in ihrem eigenen Hotelbett, der Morgen war grau. Kein Zimmer 13 gegenüber. Nur eine alte Mauer, von Efeu überwuchert. War alles nur ein Traum?

Auf dem Nachttisch lag ein nasser, zerschlissener Hase mit zugenähtem Auge.

© Kathrin Wagmann 2025-05-12

Genres
Spannung & Horror