Das Mädchen und ihr Einhorn

Dakota

von Dakota

Story

Ich sitze in der Bahn, ganz am Rand von den drei Plätzen direkt bei der Tür. Ein kleines Mädchen steht genau auf der anderen Seite der Scheibe und hält sich an der Metallstange fest. Sie ist vielleicht 5 oder 6 Jahre alt und hält ein pinkes Einhorn ganz fest in der Hand. Ihre Haare sind kunstvoll geflochten und es sieht richtig süß aus. Ein bisschen erinnert mich die Flechtfrisur an the100, die Serie, die ich gerade schaue, in der die Protagonisten meist auch viele geflochtene Zöpfe tragen. Aber es liegt auch an ihrem Blick. Die grünen Augen sind ganz wachsam, beobachten alles und erinnern mich an Lexa aus der Serie. Da erfassen ihre wachsamen Augen mich und ich muss lächeln. Ihr Ausdruck bleibt hart. Klare Sache: Fremden Leuten misstraut man. Ich schaue weg, denn ich möchte nicht, dass sie denkt, ich beobachte sie. Ich möchte ihr keine Angst machen. Kleinen Kindern wird in dieser Welt genug Schaden zugefügt, da muss man sie nicht unnötig in ihnen unangenehme Momente bringen.

Da kommt ihr Einhorn durch den Spalt zwischen Metallstange und Glasscheibe mit seinem Horn in meine Richtung. Ich lächele. Das kleine Mädchen schaut mich an, ihr Gesichtsausdruck bleibt unverändert, aber doch sehe ich in ihren Augen diese Neugier, die nur Kindern eigen ist. Dieses unermessliche Bedürfnis zu Verstehen. Das Einhorn zieht sich wieder zurück und das Mädchen versteckt sich hinter dem Bein ihres Vaters, der jedoch nur am Handy ist und gar nichts mitbekommt. Ein bisschen gruselig finde ich ihn. Er scheint sich gar nicht für seine Tochter zu interessieren. Sie redet leise mit ihm, doch er schiebt sie nur weg und sagt, er hat keine Zeit. Vielleicht stimmt das ja sogar. Vielleicht schreibt er gerade mit einem Arbeitskollegen oder muss etwas für die Malerfirma klären, bei der er arbeitet. Das war nicht schwere Detektivarbeit, sondern konnte man ganz leicht erkennen, da ein riesiges Logo seine Arbeitsjacke ziert.

Da kommt plötzlich das Einhorn wieder zwischen Eisenstange und Glasscheibe hervor. „Hallo“, sagt das Mädchen und lächelt zum ersten Mal. Zuckersüß. Ich hadere mit mir, ob ich ihr antworten soll und entscheide mich dazu, meine Hand zu heben und zu winken. Ihr Lächeln wird noch breiter und sie schaut mich mit ihren großen neugierigen Augen an. Das Einhorn kommt jetzt ganz durch den Spalt und ich habe kurz Sorge, dass das Mädchen mit ihrer Hand stecken bleibt. Völlig unbegründet, so zierlich wie ihre kleinen Arme und Handgelenke sind. Das Einhorn ist jetzt fast auf Höhe meines Kopfes und das Mädchen sagt nochmal „Hallo“. Wobei in ihrer Weltanschauung sicherlich das Einhorn spricht.

Dann sagt der Vater etwas zu dem Mädchen und sie zieht ihre Hand und das Einhorn zurück. Ich schaue auf die Anzeige in der Bahn und als ich aufstehe, um auszusteigen, wiegt sie ihren Kopf hin und her. Sie versteckt sich hinter dem Bein ihres Vaters, taucht aber gleich wieder auf. Sie grinst und ich muss auch lachen. Sie stupst ihrem Vater immer wieder gegen sein Bein und flüstert ihm dann etwas ins Ohr. Er hält ihr seinen Rucksack hin und sie nimmt eine pinke Mini-Handtasche heraus. Ich hasse pink, aber es ist irgendwie so süß. Sie setzt sich mit ihrer Handtasche auf den Platz, auf dem ich zuvor saß. Dann steige ich aus und das Einhorn winkt mir noch einmal durch das Fenster zu.

© Dakota 2024-01-13

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Unbeschwert, Lighthearted