von Hannes Stuber
[1976] Es klang alles so einfach: Einen Monat am Meer verbringen und dafür bezahlt werden. Alles, was ich tun sollte, war, auf eine Gruppe Kinder achtzugeben. Ich war zweiundzwanzig, als ich einen Ferialjob bei den Wiener Kinderfreunden übernahm und an die jugoslawische Adria fuhr, südlich von Rijeka. Wir bezogen ein Haus in Strandnähe. Ich erhielt etwa zwanzig Fünfzehnjährige, für die ich der Erzieher war. Die erträumte Idylle währte leider nicht lange. Nach einigen Tagen kam Unzufriedenheit auf. Während den Erziehern ein passables Menü vorgesetzt wurde, erhielten die Kinder ein minderwertiges. Meine Buben machten lange Gesichter. Wenn die Kinder murrten, setzte der Direktor auf Drill und ließ alle im Hof antreten, wie beim Militär.
Meine Kollegen schwiegen zu den Herrschaftsallüren des Direktors. Am Abend betranken sie sich im Kellerstüberl und sangen anzügliche Heurigenlieder. Ich machte nicht mit. Nach zehn Tagen, an meinem ersten freien Tag, ging ich über einen bewaldeten Hügel in eine entlegene Bucht. Dort setzte ich mich auf eine Decke und schluckte ein Stück LSD, das ich mitgenommen hatte.
Ich schloss die Augen, entspannte mich, genoss die Ruhe, das Meeresrauschen, den Rhythmus der Brandung, das ewige Hin und Her. Das Meer erzählte mir die Geschichte des Lebens! Mir wurde telepathisch klar, wie alles aus dem Wasser geboren worden war. Und das Wasser wäscht auch alles wieder rein. Nach einigen Stunden des ätherischen Wallens ging ich zum Kinderheim zurück und kündigte. Ich wollte nicht mehr mit ansehen, wie die Kinder schlechtes Essen bekamen. Der Direktor jammerte, dass er nicht so schnell Ersatz bekommen konnte. Vor meinen glasigen Augen verschmolz seine Gestalt mit dem Hintergrund des Raumes.
Im Bus fuhr ich nach Rijeka, die Küste entlang. Am Bahnhof kaufte ich eine Fahrkarte nach Wien und wanderte, weil einige Stunden Zeit verblieben, noch unter leichtem LSD-Einfluss, durch die Stadt, die Reisetasche in der Hand. Es wurde Nacht. Da hörte ich elektrische Gitarren. Die Musik kam aus einem Stadion. Auf der Bühne tobte eine kroatische Rock-Band. Die Zuschauer saßen auf den Rängen, einige standen herum. Ich stellte die Tasche ab und tanzte, als Einziger, auf dem Rasen und verlor mich in der Musik.
Die Band hörte viel zu früh auf. Ich sah nach meiner Reisetasche. Sie war weg, gestohlen! Und mit ihr meine neue Kleidung und die neuen Bücher. Reisepass und Fahrkarte hatte ich in der Hosentasche. Als ich verärgert durch die finsteren Straßen zum Bahnhof wanderte, schiss mir ein Vogel im Vorbeifliegen auf den Kopf. Hohn des Schicksals. Frustriert wischte ich mir die klebrige Masse aus den langen Haaren.
Im Zug betrank ich mich mit einem Liter Mineralwasser. Der Schaffner wunderte sich, dass ich ohne Gepäck, Jacke und Socken unterwegs war. Als ich in Wien ausstieg, war es kalt, nass, hatte geregnet. Ich fuhr mit der Tramway nach Hause. Die Passanten starrten auf mein kurzärmeliges T-Shirt, die nackten Füße und die Holzschlapfen. Sicher hielt man mich für einen entflohenen Verrückten.
© Hannes Stuber 2021-05-26