Das Mondgesicht

Kemal Kulaksız

von Kemal Kulaksız

Story

„Wissen Sie, was seltsam ist, Herr Doktor? Ich dachte, ich hätte es vergessen. Aber jetzt, wo meine Kinder ausgezogen sind, ich allein bin und mehr Zeit für mich habe, schlagen die Erinnerungen ein wie Blitze und lassen nichts als Strünke zurück.“ Sie steckte die Haare zu einem Knoten zusammen. „Nachts schwebt sein mondförmiges, aknezerfressenes Gesicht vor meinen Augen.“

Seit sie nach Wien geflohen war, waren mehrere Dekaden vergangen und laut ihren Erzählungen hatte sie es alles andere als leicht. Jeder Tag war ein Kampf ums Überleben, ein Kampf um ein Stück trockenes Brot und Butter. Wenn sie allein gewesen wäre, wäre es bis zu einem gewissen Grad erträglich gewesen, sagte sie, aber mit zwei Kindern, die vor Hunger weinten, war das Herz zwischen Mühlsteinen gefangen. Erinnerungen und Gedanken schienen vergessen zu sein, aber sie waren auf der Lauer und warteten auf den Tag, an dem sie dachte, aufatmen zu können, um über sie herzufallen.

„Und wenn ich sie schließe, springt mir seine Fratze aus der Dunkelheit entgegen. Aber wissen Sie, was das Schlimmste ist? Mit seinem Gesicht könnte ich noch leben, aber dann flüstert er mir etwas ins Ohr. ‚Meine Samen werden Schatten‘, flüstert er.“ Ihr Gesicht wurde ernster, aber nicht streng. Es war Mut, was in ihren Augen flackerte, Mut zu sprechen. „Könnte ich vielleicht einen Kaffee haben, wenn es Ihnen nichts ausmacht?“

Ich wollte auch einen, da ich vermutete, dass es eine dieser Geschichten sein würde, die Kaffeetassen verlangte, nach denen man griff, um unangenehmen Augenkontakt zu vermeiden. Wenige Minuten später klopfte es an der Tür. Paige stellte zwei Kaffeetassen ab und ging wieder.

„Ich wurde in einem Dorf geboren, das man auf keiner Karte findet, in einem Dorf hinter sieben Bergen und zwischen zwei Tälern. Man nannte mich Kezia, weil ich nach Zimtblüten roch. Mutter mochte es nicht, wenn ich das Haus verließ. Lassen Sie sich von meinem jetzigen Äußeren nicht täuschen. Man nannte mich nicht ohne Grund Kezia. Ich roch und sah aus wie eine Blume. Wirklich.“ Sie lachte auf, machte eine kleine Pause und starrte in den Kaffee. Ob sie das Gesicht sah, von dem sie sprach? „Es war an meinem sechzehnten Geburtstag. Soldaten fielen ein. Hütten und Häuser brannten. Wie tollwütige Bestien vergingen sie sich an den Frauen. Ich versteckte mich in einem Getreideschober, aber man fand mich. Von all den Gesichtern kann ich mich nur an ein einziges erinnern, an das verkraterte Mondgesicht. Und an das, was er mir ins Ohr raunte.“

Wir schwiegen. Ich fuhr mit dem Zeigefinger den Tassenrand nach und nahm einen großen Schluck. Sie leerte ihre Tasse in einem Zug.

„Im Winter gingen die Frauen mit prallen Bäuchen zum Fluss am Waldesrand und kamen mit leeren Bäuchen und Armen zurück. Ich entschied mich für meinen Bauch und gegen das Dorf.“

Paige nahm die leeren Tassen und brachte sie dampfend wieder zurück.

© Kemal Kulaksız 2021-02-19

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