Das Paradoxon der Discokugel

Lostinmyliterature

von Lostinmyliterature

Story

Als ich zwölf Jahre alt war, hing sie in meinem Zimmer, die Discokugel. Groß und schimmernd, so still und doch so voller Leben schmückte sie jahrelang den Mittelpunkt an der Decke, alles drehte sich um sie, sie drehte sich um alles. Der restliche Raum war der Innbegriff von dem Zimmer eines Teenagers: Restliche Möbel aus der Kindheit, deren Wärme von einer Posterexplosion genommen wurde. Eine unindentifizierbare Mischung aus dem, was ich einst gewesen war, und dem, was ich laut Magazinen und Peers sein sollte. Das typische Chaos eines Frühteenagers, das sein inneres Durcheinander repräsentiert. In diesem Durcheinander spielte die Discokugel ihr eigenes Spiel, bei Lichteinfall schmückte sie den Raum mit Punkten und tanzte, sobald man sie berührte. In dem statischen Chaos meines Zimmers lebte sie und belebte alles um sich herum. Sie war das Einrichtungsstück, das ich wollte, mit dem ich mich verbunden fühlte.

Groß und schimmernd, lebend und belebend, unabhängig vom statischen Umfeld, fesselnd und schmückend. Wer möchte keine Discokugel sein? Sie schien so unabhängig und mühelos, während sie im Wind tanzte und alle Lichtspiele in meinem Zimmer mit ihr. Sie trug in sich mehr als Coolness, sie brachte mit sich das Leben der Party. Sie war, was ich im Mittelpunkt meiner Identität, meinem Zimmer, im Mittelpunkt haben wollte. Als was ich mich selbst fühlte.

Mehr als zehn Jahre später wundere ich mich, wo sie ist und was sie macht. Hat sie jemand in den Mittelpunkt gestellt, dass sie das ganze Zimmer schmücken kann? Hat sie jemand berührt, oder den Wind eingelassen, dass sie tanzen kann? Gibt ihr jemand Licht, dass sie reflektieren kann? Was, wenn nicht? Meine Discokugel leuchtet nicht von selbst und sie tanzt nicht von selbst. Vielleicht kann man sie wohl doch kaum als unabhängig bezeichnen. Alleine ist sie ein spiegelnder, stillstehender Ball, unfähig sein eigenes Licht zu schaffen.

Es scheint fast so, als würde ihre ganze Präsenz bloß Performance sein. Eine Performance von allem, was sie alleine nicht ist, was sie nur unter anderen sein kann. Was sie nur anderen vortäuschen kann. Denn ihre Wahrnehmung bringt diese Version von ihr zum Leben. Der Wind lässt sie tanzen, das Licht scheinen und die Umgebung ausstrahlen. Das kann sie alleine nicht, das ist sie alleine nicht.

Langsam glaube ich, das ist sie nie gewesen.

© Lostinmyliterature 2021-11-13

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