Das personifizierte Böse

Ida Porstendorfer

von Ida Porstendorfer

Story

“Entschuldige? Magst du deine Jacke vielleicht zur Seite nehmen? Nicht, dass ich mich noch draufsetze..”, frage ich meine Sitznachbarin im Bus mit einem Lächeln, bevor ich neben ihr Platz nehme. Sie wirkt verlegen und muss ebenfalls grinsen, das sehe ich trotz Maske. Die kleinen Falten um ihre Augen verraten sie.

Meine Stimme klingt kratzig und müde an diesem Morgen. Es gefällt mir. Der Bus setzt sich mit einem Ruck in Bewegung und ich versinke – wie so oft – zeitgleich in meinen Gedanken. Ich mag meine Stimme. In meinen Ohren klingt sie tiefer, als man es vielleicht im ersten Moment erwarten könnte. Sie ist klar und empathisch und strahlt meinen Charakter aus. Außerdem mag ich sie, weil sie meine Gedanken aus meinem Kopf heraus in die Realität transportieren kann. Ich habe nicht nur ‘kein Problem’ mit ihr, nein, ich glaube, ich habe meine Stimme schon immer gemocht. Da ich mich gestern unfassbar unwohl in meiner Haut gefühlt habe, sobald ich morgens das Haus verließ, möchte ich mir heute einen Extra-Boost an Selbstbewusstsein geben und denke weiter darüber nach, was mir noch an mir gefällt. Meine Augen sind mir heute morgen beim Schminken aufgefallen. An manchen Tagen sind sie mir nicht blau, nicht leuchtend, nicht hell genug. Ich beschreibe sie dann gerne mit einem abwertenden ‘blau-grau’. An anderen Tagen jedoch strahlen sie und kriegen einen leichten Grünstich, an diesen Tagen mag ich meine Augen. Ich mag meine Lippen, den kleinen goldenen Ring an meiner Nase und meinen Rücken. Außerdem gibt es Dinge an mir, die ich mögen gelernt habe, seit ich sie besser behandle. Ich mag meine Hände, seit ich meine Nägel in Ruhe lasse und sie wachsen können und ich mag meine Haare, seit ich akzeptiert habe, dass sie einfach nicht glatt sein wollen und sie in undefinierten Locken auf meinem Kopf herumspringen lasse. Was ich nicht an mir mag, sind meine Oberarme und Oberschenkel. Sie sind mir einfach zu undefiniert, was eventuell an meiner (fehlenden) Beziehung mit jeglichen sportlichen Aktivitäten liegen könnte. Irgendwie möchten sie einfach nicht Teil meines Lebens werden. Und es gibt etwas, was ich hasse. Ich hasse meinen Bauch. Diese amorphe Ansammlung von Fettzellen in meiner Körpermitte ist mir, seit ich denken kann ein Dorn im Auge. Ich habe meinen Bauch mittlerweile so sehr zum personifizierten Bösen erkoren, dass ich in den letzten drei Jahren beinahe vergessen habe, welche angeblichen “Problemzonen” mir die Gesellschaft noch aufdrücken möchte. Wenn mir Menschen begegnen, wird ihnen mein Bauch wohl kaum auffallen, aber in meinem Kopf hat er über die Jahre einen absurden Raum eingenommen und ist von dort nicht mehr wegzudenken. ‘Eigentlich ist er ja auch ganz liebenswert’, denke ich in diesem Moment und fühle mich furchtbar, weil ich meiner Körpermitte mit so viel Ablehnung begegne. ‘Ich werde mich bessern‘, denke ich, während ich aus dem Bus aussteige. Für heute kann ich sagen, dass ich meine Stimme mag. Das ist ein Anfang.

© Ida Porstendorfer 2022-04-13

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