Das Rätsel mit der weißen Wand.

Franz Brunner

von Franz Brunner

Story

Ich möchte auf keinen Fall, verstehen Sie, AUF GAR KEINEN FALL, so aussehen wie George Clooney. Nicht, dass er mir nicht gefällt, der Mann hat schon was, aber ich möchte lieber meine Ruhe haben und nicht auf Schritt und Tritt fotografiert werden. Mir reicht’s, so umschwärmt zu werden, wie es gerade ist, nämlich überschaubar und nett. Andererseits … Ach was, ich gehöre zur Generation 60+, da ist die Sturm- und Drangzeit längst vorbei. Meistens. Im Wesentlichen.

Ich werde auch nicht stundenlang dasitzen und Ziegen grimmig in die Augen schauen. Sie kennen den Film nicht? „Männer, die auf Ziegen starren“. Sehenswert und sarkastisch, aber ich besitze keine übersinnlichen Fähigkeiten und werde bestimmt keine Ziegen durch Anstarren töten. Halten wir fest: Ich habe keinerlei Ähnlichkeit mit George Clooney, werde keine Lebewesen töten und starre gegen eine weiße Wand im Urlaubsquartier. Verrückt, oder?

Nicht, wenn man die Vorgeschichte kennt. Wenn man von einer wildfremden Person attestiert bekommt, man könne sogar über eine weiße Wand schreiben, so kann das ein Laientexter durchaus als Kompliment an die Kreativität auffassen. Anders, wenn dies jemand sagt, mit dem man 46 Jahre heftig liiert ist, da steckt schon mehr dahinter. Ich bin gefordert, das Gleichnis zu hinterfragen, und das mache ich eben vor einer nackten, weißen Wand. Das Badezimmer des Appartements ist extrem fantasielos, von Bildern und sonstigen Staubfängern gänzlich befreit, ein idealer Rückzugsort.

Eine Viertelstunde ist vergangen, ich sitze bewusst auf einem ungemütlichen Sessel, um so eine zeitliche Begrenzung meines sonderbaren Tuns zu erzwingen. Mein Blick ist starr auf die Wand gerichtet, mein Geist driftet unstet mal dahin und mal dorthin. Was wollte meine Liebste mit dem Gleichnis der weißen Wand bewirken? Oder hat sie’s einfach so gesagt, damit sie was sagt? Nein, unmöglich, Frauen sagen nie etwas „nur so“.

Nachdenken ist zeitaufwändig, ich sitze bereits eine Stunde. Ich bin’s gewohnt, Schreiben ist ja auch zeitaufwändig. Und da bleibt manchmal leider nicht genug Zeit für andere, vielleicht essenziellere Dinge, z.B. den Haushalt. Ich denke, Sie können mitfühlen. Oh Gott, jetzt hab‘ ich’s, um die To-Do-Listen geht’s. Ich hinke bei der Abarbeitung derselben zuletzt ordentlich nach. Schreiben ja – Staubsaugen nein – Tagträumen ja – Lichtschalter wechseln nein. Ich reiße meinen Blick von der weißen Wand los. Im ungünstigsten Augenblick, denn gerade sah ich eine halbnackte Frau im Schneesturm einem Bösewicht davonlaufen, da hätte es dringend meiner Hilfe samt nachfolgender Dokumentation bedurft. Geht nicht, ich muss dringend in die Küche.

Im Eilzugstempo wird das Frühstück für meine Liebste zubereitet und die Küche blitzblank geputzt, abschließend werden sämtliche Lichtschalter des Appartements kontrolliert. Noch rasch die richtige Musik gesucht, Sting gibt sein Bestes. Jetzt durchatmen und die Beschwerdeführerin wachküssen.

© Franz Brunner 2022-12-08

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