An einem idyllischen Samstagnachmittag saß Lukas ein Buch lesend im Garten, etwas, das er in der letzten Zeit sträflichst vernachlässigt hatte. Doch der neue Job in der Anwaltskanzlei, das neue Haus und die Geburt des Sohnes vor Monaten ließen ihm kaum Zeit dafür seiner Liebe für Kultur und Literatur ordentlich nachzugehen. Es schien ihm erstaunlich, fast schon erschreckend, wie schnell man geliebtes aufgibt. Doch war das nicht immer so wenn man erwachsen wird, Erfolg im Beruf haben will und eine Familie? Andere machen, das doch auch so, oder etwa nicht?
Manchmal erwischte Lukas sich schon dabei, alles zu hinterfragen, die Schulden und die ganzen Verpflichtungen im Job, die erfüllt werden mussten, um diese Abzubezahlen. Vor allem sein Mangel an Ellenbogentechnik, so fürchtete er, könnte ihm das Erreichen seiner Träume möglicherweise massiv erschweren. Dies machte ihm in letzter Zeit vermehrt Sorge. Geredet hatte er bisher auch noch mit niemandem darüber, denn Sabine, seine Frau und Lukas sollten von seiner Sinnkrise nicht allzu viel mitbekommen.
Plötzlich erblickte Lukas eine schwarze Katze mit riesigen, bernsteinfarbenen Augen, die, so schien es Lukas direkt durch ihn durchblickte. Dieser Blick der Katze hatte für Lukas etwas Faszinierendes, ja schon fast hypnotisches an sich. Deshalb bemerkte er erst im Nachhinein, dass diese Katze eine noch lebende Maus in ihrem Maul hatte, die jämmerlich zu quieken begann. Erst betrachtete Lukas das langsame Tötungsritual der Katze wie versteinert. Er sah ihr zu wie sie der Maus mit den Tatzen heftige Schläge verpasste, wie die Katze die arme Maus hemmungslos, aber trotzdem mit einer verspielten Leichtigkeit, gepaart mit sadistischer Grausamkeit durch die Luft wirbelte und ihr dabei ein Bein abriss.
Ab diesem Punkt wurde es Lukas zu viel und er konnte sich dieses barbarische Spektakel nicht näher ansehen. ,,Wie konnten Tiere nur so grausam zueinander sein?“, begann Lukas sich zu fragen. Auch der Sinn von alledem war ihm nicht ganz klar. Plötzlich, aber wurde ihm bewusst, dass die Katze nur ihrem Überlebensinstinkt nachgeht und im Prinzip nichts anderes macht als seine Kollegen im Beruf. Durch spielerische List besiegt sie ihren Gegner.
Jetzt wurde Lukas klar, wie er sich Kanzlei behaupten musste. Er musste flink, schlau und listig sein. Manchmal vielleicht sogar ein wenig grausam. Er musste zum Raubtier werden um zu überleben.
© Andreas Etzenberger 2021-08-15