von ratz
Es ist sieben Uhr morgens. Heute bin ich 69 Jahre alt geworden. Ich sitze auf einem Baugerüst, das nicht vor einem Haus aufgebaut ist, sondern am Ufer des Sees, an dem ich seit ein paar Monaten wohne. Ich bin nicht die einzige in der Wohnanlage, die gerne schwimmt. Aber das Ufer ist steil, und es gibt bislang keinen Steg. Um den Einstieg ins Wasser zu erleichtern, haben einige Mieter dieses Gerüst gebaut. Es ist nicht schön, aber praktisch. Der See selbst braucht nicht praktisch zu sein. Er ist schön, und er sieht jeden Tag anders aus. Heute liegt er glatt wie eine Glasscheibe vor mir. Oder wie ein Spiegel. Die Sonne steht noch niedrig genug, dass sie ihr Licht schräg auf die Wasserfläche gießen und darauf eine goldene Bahn ziehen kann. Als ich mich dem Ufer nähere, fliegt direkt neben mir ein Reiher auf. Ich sehe gerade noch seine großen Schwingen, bevor sie hinter ein paar Büschen am Ufer verschwinden, und ich höre – nichts. Dass dieser große Vogel sich so lautlos in die Luft erheben kann, fällt mir heute zum ersten Mal auf. Jemand hat einen alten Gartenstuhl auf die Plattform des Gerüsts gestellt. Auch er ist nicht schön, aber praktisch. Ich setze mich darauf und sehe auf die glatte Fläche des Sees, sehe Boote und Jachten, die, fest verankert, über den See verteilt sind. Es ist keine Bewegung im Bild. Zwei Kormorane fliegen vorbei. Das stört die Stille nicht. Sie wird mir durch sie noch stärker bewusst.
Hier am Ufer schwimmen ein paar gelbliche Schlieren auf dem Wasser, Blütenstaub, der sich darauf gelegt und noch von keinem anderen Schwimmer untergemischt worden ist. Ich strecke jetzt meine Beine ins Wasser und auch die Arme, erzeuge Blasen und Ringe auf der stillen Oberfläche. Dann tauche ich mich einem Kopfsprung ein, schwimme einige Züge auf der Brust, tauche immer wieder den Kopf ein. Das gehört dazu. Zu meinem Vergnügen, im Wasser zu sein. Ich bin an einem See aufgewachsen. Ein Sommertag ohne Baden war kein richtiger Sommertag. Zum Baden gehörte auch das Tauchen. Wir haben Gegenstände ins Wasser geworfen und wieder hochgeholt. Wir haben Strecken unter Wasser zurückgelegt. Ich und all die anderen Kinder und Jugendlichen, die sich im Sommer im Freibad am See getroffen haben. Zum Baden gehörte das Tauchen. Damals und heute. Wenn ich den Kopf nicht eingetaucht habe, war ich nicht richtig im Wasser. Nie hätte ich mir vorstellen können, eine Frisur zu tragen, die durch die Nässe verdorben würde. Das Wasser muss mir über Stirn und Nase streichen, an meinen Wangen vorbeiziehen. Ich drehe mich um. Jetzt ist der Hinterkopf im Wasser, und über mir ist der Himmel. Ein helles durchsichtiges Blau. Unter mir ist das Wasser, grünlich und kühl. Ich habe nie daran gezweifelt, dass es mich trägt. Anders als im Schwimmbad kann ich mich hier rückwärts fortbewegen ohne die Furcht, mit dem Kopf eines anderen Schwimmers zu kollidieren oder mit der Wand des Schwimmbeckens. Ich drehe mich um, schwimme auf der Brust zurück in Richtung Ufer. Da wird mir bewusst, dass Schwimmen für mich immer das reine Vergnügen war. Es hatte nie etwas mit Leistung zu tun. Ich habe nicht versucht, möglichst schnell zu schwimmen oder die Strecken zu messen, die ich in die Tiefe oder in die Weite getaucht bin. Es musste nur Spaß machen. So ist es bis heute. Jetzt bin ich 69 Jahre alt, und der Tag und das neue Lebensjahr haben gut angefangen.
© ratz 2023-06-26