von HelgaP
Die Friedhofstür steht offen. Vor der Tür parkt ein Gomobil und ich vermute den alten Mann in der mittleren Reihe hinten an der Friedhofsmauer als dessen Eigentümer. Seine gebückte Gestalt hängt dort oft über den roten Rosen am Grab seiner verstorbenen Frau.
Doch dieser Platz ist leer. Als ich zum Wasserbecken gehe, um die Gießkannen zu füllen, höre ich eine Stimme. Sie spricht ohne Unterbrechung, leise geflüsterte Worte folgen lauteren nahezu heiteren Passagen. Ich spitze meine Ohren, doch kann ich die Worte nicht verstehen. Eine weißhaarige alte Dame sitzt auf dem Sockel eines Grabsteines und spricht liebevoll mit Nicken und unterstützenden Gesten ihrer Hände zu dem Grab vor ihren Füßen.
Ich fülle meine Gießkannen, gehe zurück zu der Reihe wo das Grab meines Vaters liegt. Als ich an der Sprecherin vorbeigehe, verstummt sie. Doch während ich meine Kannen für die durstigen Blumen am Grab meines Vaters leere, höre ich wie ihre Stimme ihre Unterhaltung wieder aufnimmt. Als ich die leeren Gießkannen zurückbringe, steht sie an einem anderen Grab und spricht auch dort liebevolle Worte. Beim Vorbeigehen grüße ich, wir lächeln uns freundlich zu und beginnen zu plaudern. Ja, sie wäre hier und besuche ihre Toten. Es gäbe so viel zu erzählen und sie spräche mit allen, die sie gekannt hat. Hier in diesem Grab läge eine liebe Freundin, mit der sie sich gerade unterhalte. Auf meine Frage, ob sie denn auch Antworten bei ihren Gesprächen bekäme, huscht ein verlegenes aber wissendes Lächeln über ihr faltiges Gesicht. Sie streicht eine weiße Haarsträhne aus der Stirn, verlagert vorsichtig das Gewicht auf ihr nicht bandagiertes Bein und versichert mir: “Ja natürlich bekomme ich Antworten.”
Dann möchte sie wissen, wen ich hier “ liegen habe” und wir unterhalten uns über Gräber. Genauer gesagt über deren Bewohner. Das Holzkreuz dort in der rechten Ecke will sie auch noch besuchen. Dort liegt meine Schulkollegin begraben, die mit 21 Jahren beim Wandern in Südtirol erfroren ist. Wir haben also sogar gemeinsame „Bekannte“ hier am Friedhof.
“Jetzt muss ich aber weiter” beendet meine Gesprächspartnerin dann abrupt unsere Plauderei. Wir verabschieden uns und ich höre wie beim nächsten Grab ihre Stimme wieder freundlich monoton ihren Singsang aufnimmt.
Ich gehe zurück zum Grab meines Vaters, kann aber die Gestalt der alten Frau nicht aus den Augen lassen. Ihre Antwort auf meine Frage klingt in mir nach. Wie gerne würde ich auch wieder einmal die Stimme meines Vaters hören. Ich beginne, ihm Dinge aus unserem jetzigen Leben und wie es uns allen geht, zu erzählen. Der Dialog gestaltet sich doch eintönig und wird nicht mehr als ein Monolog. So sehr ich in mich hineinhorche, will meine Erinnerung mir die Stimme meines Vaters nicht so wiedergeben, wie ich sie so gerne vernehmen würde.
Lieber Vati, ich werde das genaue Hinhören wohl doch noch besser üben müssen. Aber nächstes Mal vielleicht?
© HelgaP 2022-08-15