Das russische Mädchen

Mirco von Maydell

von Mirco von Maydell

Story

Auf der Suche nach Informationen streifte ich durch das Internet und entdeckte per Zufall einen Aufruf, wo es darum ging, jungen Frauen Briefe zu schreiben, auf dass sie den Lebenswillen nicht verlieren sollten. Ich bemerkte, wie mich dieser Artikel direkt in den Bann zog und so las ich, was dort stand. Es ging um junge Frauen, die im Gefängnis sitzen und so gut wie keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Diese waren auf der Suche nach einem lieben Briefeschreiber, der sich mit ihnen auszutauschen bereit war.

Es dauerte ca. zwei Wochen, nachdem ich mich dort gemeldet hatte, bis der erste Brief einer jungen Frau bei mir eintraf. Sie hieß Nadja und war gerade mal sechszehn Jahre alt. Sie schilderte, dass sie in Russland in einem Arbeitslager einsaß und es dort wenig Ablenkung gab. Ihr Alltag war bestimmt von der schweren Arbeit im Steinbruch. Alle Mädchen und so auch sie, schleppten dort täglich viele Stunden lang Steine hin und her und unvorstellbaren Bedingungen. Ich war fassungslos, dass es solche Einrichtungen in unseren Zeiten nach wie vor geben sollte, doch dem war so. Sie beschrieb ihr Zimmer, was klein und auf das Mindeste reduziert war, was ein Mensch zum Leben brauchte. Die dicken Gitterstäbe am Fenster zollten davon, dass es hier kein Entrinnen gab. Mich traf das wie ein Vorschlaghammer, was musste diese junge Frau für Leiden ertragen und je mehr ich mich in ihre Briefe hineinversetzte, desto mehr kam in mir die Frage auf, was hat sie ausgefressen, um eine derartige Bestrafung zu erhalten?

Mit der Zeit lernte ich, wie man Briefe schrieb, die nicht direkt vom Gefängnispersonal vernichtet wurden, was mir zu Anfang des Häufigeren passierte. Dies merkte ich erst, als Nadja mir schrieb und sich darüber beklagte, dass ich schon so lange nicht geantwortet hätte, was ich jedoch getan habe, nur wurde der Inhalt als nicht vertrauenserweckend eingestuft und weg geworfen. Da begriff ich, ich muss in Code schreiben, so dass die eigentliche Nachricht des Briefes nicht auf den ersten Blick zu sehen ist. Aber wie sollte ich das Nadja verständlich machen, dass ich nun so ihre Briefe präparierte.

Nach etwa einem halben Jahr klappte es und ab da konnte sie ganz offen schreiben, wie es dazu kam, dass sie interniert wurde. Als die Botschaft bei mir ankam, traf es mich mit voller Wucht. Sie hatte im Deutsch Unterricht die Aussage getroffen: „Deutschland wäre ein modernes Land, in dem auch die Frauen ihre Meinung sagen können!“ Dafür erhielt sie 8 Jahre Gefangenschaft in einem Lager in Sibirien, Nahe eines Steinbruchs. Ich war fassungslos. Wie konnte das sein? Was für eine ungebührliche Strafe. Das sprengte meine Vorstellungskraft. Alle Versuche sie dazu zu bewegen zu sagen, wo sich dieses Lager genau befindet, schlugen Fehl. Zu groß war die Angst, dass es herauskommen würde. Dann, so sagte sie, würde die Militärpolizei kommen und ihre ganze Familie abholen. Sie hatte davor zu große Angst und ich auch.

© Mirco von Maydell 2019-09-23

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