von MelinaJAscot
Er dreht den Kopf und sieht zum Fenster hinaus, weil er den Anblick des leeren Sitzes ihm gegenüber nicht mehr erträgt. In atemberaubender Geschwindigkeit rauscht die Landschaft draußen an ihm vorbei. In einem Moment sind da noch Bäume, im nächsten ein freies Feld. Er sieht ein Mädchen auf einem Pferd galoppieren. Der Wind bringt ihr Haar durcheinander und innerhalb weniger Momente ist sie aus seinem Blickfeld verschwunden. Er dreht sich um, um sie noch einen Moment länger ansehen zu können, dann ist sie endgültig weg.
Der Junge rutscht tiefer in den Sitz und legt den Kopf gegen die kühle Scheibe. Die Finger seinen linken Hand spielen an dem Lederband, das er um das rechte Handgelenk trägt. Eine kleine Erinnerung. Er lächelt dünn, denkt an das Mädchen von vor so vielen Jahren zurück. Er hatte sie wirklich geliebt.
Das Feld mit den vereinzelten Bäumen wird steiniger und steiniger, bis plötzlich das Meer an seiner Stelle ist. Der Junge schnappt nach Luft, seine Finger graben sich in seinen Unterarm, wo sie sichelförmige Abdrücke hinterlassen. Noch etwas mehr und Blut würde seine Haut rot färben. Sie hatten immer zusammen ans Meer gewollt, hatten ständig davon gesprochen. Er hatte mit großer, ausladender Geste erkundet, er würde sie retten, als sei er ihr Prinz in der schimmernden Rüstung, und an einen Ort führen, der ihrer würdig ist. Das kleine Schloss am Meer, das er aus seiner Kindheit, aus den vergnügten Urlauben mit seinen Eltern, als alles noch einfacher gewesen war, kannte. Sie war seine Prinzessin und er hatte ihr ihr Schloss zu Füßen legen wollen, auch noch, als er erfahren hatte, dass es eigentlich nur eine Touristenattraktion ist. Der Zauber kindlicher Imagination. Und trotzdem hatten ihre Augen geleuchtet, als er ihr all das versprochen hatte, und sie hatte gelacht, er wäre wie einer dieser alten Dichter, die ihre Damen mit Gedichten und Liedern umwarben.
Er zieht die Stirn in Falten und schüttelt sich kurz, verschränkt die Hände fest ineinander, als wolle er beten; dabei will er sich nur davon abhalten, weiter blutige Halbmonde auf seine Unterarme zu zeichnen. Er glaubt nicht an eine höhere Macht. Er hatte es nie und jetzt war jeder Funken möglichen Glaubens sowieso vernichtet. Als er die Augen schließt, meint er, das Meer zu hören.
Das Mädchen im Sitz gegenüber schenkt dem Meer keine Beachtung. Sie legt eine Hand auf seine, doch er bemerkt es gar nicht. Sie lächelt traurig. Geister sind ja, nach wie vor, nur ein Hirngespinst.
© MelinaJAscot 2021-07-05