Das Schniefkonzert
Es gibt diese besonderen Momente im Lehreralltag, die nur während Klassenarbeiten entstehen können – diese wunderbare Stille im Raum, manchmal sogar für volle zwei Stunden. Nur unterbrochen vom gelegentlichen Rascheln des Papiers, dem verzweifelten Kramen im Federmäppchen und dem unvermeidlichen Gähnen.
Man könnte meinen, es sei langweilig, die Aufsicht zu führen. Aber für mich ist es ein kleines Theater. Meine Rolle? Die des stillen Beobachters, der mit strengen Blicken dirigiert und seine Ermahnungen durch ein „Hab-ich-dich-erwischt”-Lächeln abschwächt. Dazwischen: ein vereinzeltes Niesen – je nach Klassendynamik mit einem mehr oder weniger enthusiastischen „Gesundheit”-Chor quittiert.
Im Winter wird das Ganze besonders interessant. Da sitzen sie dann, meine Schützlinge, mit roten Nasen und Taschentüchern bewaffnet an ihren Tischen. Ein leichtes Schniefen hier, ein unterdrücktes Schnäuzen dort – eine Sinfonie der Erkältung. Zunächst noch zaghaft, dann immer mutiger. Es beginnt mit einem zögerlichen Einzelton, bis nach und nach mehr Schüler einsteigen, und schließlich flutet das gleichmäßige Schnauben den Raum. Ich horche. So schlecht klingt das gar nicht.
Schon als Kind hatte ich ein feines Ohr für Klangmuster. Während ich zwischen den Reihen patrouilliere und dem vielstimmigen Schniefen lausche, nimmt eine Idee Gestalt an: Was, wenn wir daraus ein richtiges Konzert machen würden? Ein Schniefkonzert – nicht während der Klassenarbeit natürlich, sondern danach. Oder besser noch im Sommer, wenn niemand erkältet ist und die ganze Sache zum reinen Vergnügen werden kann.
Ich stelle mir den Ablauf bereits vor: Der Auftakt – Stille. Dann ein erstes, verhaltenes Schniefen. Eine Fermate. Ein zweites Schniefen, diesmal kräftiger, weitere Stimmen setzen ein. Die Dynamik steigert sich. Der Höhepunkt: Drei vorher bestimmte Solisten prusten mit voller Kraft in ihre Taschentücher – ein Fortissimo, das den Rest der Klasse übertönt. Danach übernimmt das Ensemble: ein synchrones, rhythmisches Schniefen, mit fein abgestimmtem Ein- und Ausatmen durch die Nase. Vielleicht lassen sich sogar schnelle Staccato-Rhythmen einbauen. Das große Finale: Ein einzelner, markanter Hustenstoß, gefolgt von absoluter Stille.
Lachen wäre strengstens verboten – dafür gäbe es eine separate Aufführung: das Lachkonzert.
Ich muss aufpassen, dass ich nicht selbst grinse. Mit konzentriertem Blick gleite ich weiter durch die Reihen, lausche dem Rascheln, dem Seufzen, dem gelegentlichen Kratzen der Stifte. Klassenarbeiten – sie mögen für Schüler anstrengend sein, doch für Lehrer mit offenen Ohren sind sie voller kreativer Möglichkeiten.
© Jürgen Morgenstern-Feise 2025-03-17