von Waltraud Lehofer
Aus diesem Landstrich zu kommen, der als arm und rückständig galt mit seinen kargen Böden und dem rauen Klima war schon ein Stigma. Meine Großmütter kamen von dort. Ein noch viel Schwerwiegenderes lastete auf junge Frauen, die ein lediges Kind bekamen. Großmutter behauptete aber unbeugsam, als Jungfrau zum Traualtar gegangen zu sein. Den unehelichen, zu jung gefallenen Sohn erwähnte sie nie. Oma verlor Herz und Jugend an einen Vagabunden der Liebe. Sie holte meine Mutter nach der Heirat mit einem sehr bescheiden begabten, aggressiven Mann aus der Geborgenheit liebevoller Pflegeeltern zurück und bereitete ihr damit eine schwere Kindheit. Wenn Mama davon erzählt, bekommen ihre Worte einen bitteren Nachklang. Eher dem Chaos zugeneigt und verhaltenskreativ, rackerte Oma schließlich ums nackte Überleben auf dem kleinen erheirateten Anwesen, während Großmutter einem zweifachen Witwer mit zwei Söhnen, Häuschen und Pachtacker die verehelichte Haushälterin und das Leben schwer machte. Beide Frauen schicksalhaft an das untere Ende der gesellschaftlichen Hierarchie verwiesen, fand sich aber nur für die immerzu über Leben und Umstände lamentierende Großmutter nirgendwo ein Grund zu Heiterkeit und Freude. Sie fühlte sich unentwegt bedroht, gegen ihre Existenzängste halfen nicht einmal volle Schmalztöpfe. Oma hingegen, wegen der hohen Bankschulden ihres Mannes ständig vom Existenzverlust bedroht, radelte kampfesmutig mitten im Winter fünfzig Kilometer in die Landeshauptstadt, um die Zwangsversteigerung im letzten Moment doch noch abzuwenden. Früh ihrer Träume und jeder Scham beraubt, gelang ihr das Unmögliche. Aber nicht alle ihre Unternehmungen waren so erfolgreich. Fünfzigjährig wurde sie Fabrikarbeiterin mit himmelblauem Motorroller und Mietzinswohnung. Männer brachten ihr zeitlebens kein Glück. Großmutter, früh verwitwet, verkaufte ihr Häuschen und lebte fortan bei uns. Ihren ganzen Reichtum bewahrte sie in einer alten Blechschatulle auf, das magische Schatzkästlein. Darin lagen ein paar alte Münzen, eine billige Brosche, zwei dünne, abgenutzte Eheringe und ein Maria Theresia Taler. „Auf den sollt Ihr gut aufpassen“, trug mein Vater ihr auf, der sei echt und etwas wert. Nach ihrem Tod suchten wir vergebens danach. Von Oma blieben uns nur ein paar Fotos und schäbige Möbeln. Zeit zum Vorlesen nahmen sich Großmutter und Oma nie, aber sie erzählten viele sonderbare Geschichten, Begebenheiten aus der Herrschafts- und Dienstbotenwelt, von Dreschkästen und Erntetänzen, von gespenstischen Rauhnächten und rauen Knechten, heimlichen Liebschaften und Tod im Kindbett war die Rede. Vieles begriff und verstand ich erst später. Heute selbst Oma, lese ich vor, koche Unmengen Marillenknödel und erzähle sonderbare Geschichten von gesetzlicher Vormachtstellung der Männer, Dampf schnaubenden Lokomotiven, Vierteltelefonen und Schreibmaschinen, in die man noch Papier einspannen musste.
© Waltraud Lehofer 2023-01-07