von Tamara Nessler
Endlich gehen sie ihrer Wege. Das war heute bereits die vierte Museumsführung. Mir fällt gleich die Zunge ab vom ganzen Sprechen. Gott sei Dank ist es beinahe acht Uhr und das Museum schließt. Erleichtert hole ich mir einen Müsliriegel aus der Jackentasche und schlendere in Richtung abstrakte Kunst.
Hier bei den Abstrakten ist es etwas ruhiger. Keine quengelnden Kinder, keine Schulklassen und keine tuschelnden ersten Dates. Hier sind die stillen Genießer, diejenigen, die ein Gemälde aus Strichen und Kreisen betrachten und darin eine neue Welt sehen.
Gerade als ich um die Ecke biege, fällt mein Blick auf ein Bild rechts von mir. Es ist leer, eine weiße Leinwand. Das war gestern nicht hier. Die Kunst wird selten ausgewechselt und wenn, weiß ich Bescheid. Schließlich bin ich verantwortlich dafür in den Führungen darüber zu sprechen. Ist das ein blöder Scherz? Ich gehe näher auf die weiße Leinwand zu, um das Schild daneben lesen zu können.
„Stille Schönheit“, steht da. Künstler unbekannt. Das kann nur ein schlechter Scherz sein. Ich strecke eine Hand aus, um die Leinwand abzuhängen, da erklingt eine sanfte Stimme:
„Ob er mir schreiben wird? Immerhin habe ich ihm meine Notizen für Biologie gegeben.“ Verwirrt drehe ich mich um. Doch niemand scheint in ein Gespräch verwickelt zu sein. Im Raum sind einige ältere Herrschaften, eine Studentin, ein junger Herr im Anzug und ein Mann mit einer Zeitung unter dem Arm. Habe ich mir das eingebildet? Ich blicke wieder zu dem leeren Gemälde und da erklingt erneut eine Stimme:
„Ich brauche fünf Kunden bis Freitag, sonst war es das für mich. Wie soll ich das Amy erklären? Sie ist bloß bei mir wegen dieses Jobs.“ Nochmals schaue ich die Personen an, eine nach dem anderen. Alle sind in ihre Gedanken vertieft. Gedanken – ist das möglich? Höre ich ihre Gedanken? Zögernd riskiere ich einen erneuten Blick auf das rätselhafte Gemälde und prompt ertönt die nächste Stimme, dumpf und kratzig:
„Jeden Dienstag komme ich her, jeden Dienstag laufe ich durch den Flügel mit den abstrakten Gemälden und jeden Dienstag sehe ich dich. Wunderschön.“ Ich sollte das nicht tun, diese Gedanken sind privat. Meine Wangen erröten und meine Hände sind schwitzig. Wer ist dieser heimliche Verehrer, der hier nach seinem Glück sucht? Meine Augen wandern zwischen den Männern im Raum umher. Der Mann mit der Zeitung, ein Senior mit Gehstock, der junge Herr im Anzug und ein älterer Mann mit einem Strohhut. Erneut wage ich einen Blick:
„Ach Giselle, wie ich es vermisse mit dir hierherzukommen und zu reden. Warum musstest du vor mir gehen? Nach Jahrzehnten mit dir ist jeder Tag ohne dich eine Qual.“ Ich spüre wie Tränen in meine Augen steigen, als ich wieder in den Raum blicke. All diese Menschen, so viele Gedanken, die ganzen Geschichten.
So viel zu erzählen und doch ist es in dem Raum vollkommen Still.
© Tamara Nessler 2023-08-30