von Waldläufer
Mein Talent schaut mich aus seinen großen Kulleraugen liebevoll an und drückt mir seine weichen Lippen auf die Stirn.
„Würdest du das auch tun…“, frage ich mich, „hätte ich den Rat befolgt und dich entsprechend gefördert? Du bist so eine zarte Seele, harte Schale, weicher Kern. Ich habe die Verzweiflung in deinen Augen gesehen, als du eine Übung nicht verstanden hast. Die Wut, die in dir brodelte, Ärger über dich selbst, Angst, dass dir das alles zu schnell, zu viel, zu hoch wird. Bis du keinen anderen Ausweg mehr gefunden hast. Explodiert bist du. Durch die Decke gegangen. Als aggressiv bist du abgestempelt worden, gefürchtet, gemieden, ganz allein in dieser großen Welt hast du dich gefühlt.
Das ist ein echtes Talent, haben sie mir gesagt. Schade nur, dass es bei dir gelandet ist. Du wirst es nie entsprechend fördern können.
Will ich das überhaupt?, habe ich mich gefragt. Und… will mein Talent das auch? Bilder von leeren Augen, ausgebrannten Seelen schossen mir durch den Kopf. Mein Talent, hab ich mir gesagt, das gehört nur sich selbst. Ich habe dir die Schlüssel in die Hand gedrückt, du weißt am besten, was gut für dich ist. Und gerade eben hast du mir wieder gezeigt, wie goldrichtig ich damit lag.“
Ich drücke meinerseits einen dicken Schmatz auf die weiche Pferdenase. Mein kleines, großes Talent. Gerade eben habe ich ihn noch bewundert, wie er mit seinen Kumpels durch den Schnee getobt ist. Seine Bewegungen, seine Proportionen sind so harmonisch, dass selbst das ungeübte Auge ehrfürchtig innehält. Sein Ausdruck, pure Kraft. Er wird zum Inbegriff der Lebensfreude. In der klassischen “Talentförderung” habe ich genau das an ihm vermisst. Seinen Ausdruck. Vielleicht wird er bei mir nie sein volles Potenzial ausschöpfen können. Aber ich weiß, dass wenn der Funke in seinen Augen erloschen ist, die Sonne in seinem Gesicht nicht mehr aufgeht, ich zu weit gegangen bin. Ein Talent ist ein Geschenk. Und an einem Geschenk soll man sich erfreuen.
…
So, nun habe ich neulich einen gewitzten Spruch gelesen, und musste erstmal schlucken.
„Behandle dich selbst so, wie du dein Haustier behandeln würdest.“
Hm, ja. Bei mir selbst, bei meinen Freunden, bei meinen Nachhilfeschülern, überall begegnet mir das mit dem “Talentfördern”. Die Eltern, die eigene Erwartung. Du hast da was. Also: Mach. Was. Drauß.
Und nicht wenige, mich einbegriffen, sind schließlich desillusioniert. Desillusioniert von der Diskrepanz zwischen eigener und gesellschaftlicher Definition des Talents. Der, der die Schaltungen für selbstgebastelte Taperecorder austüftelt, warf trotzig das Elektrotechnikstudium, die, die mathematische Beweise schon führte, ehe sie von Beweisverfahren erfuhr, ertrinkt in der Flut der Aufgaben. Meinem Pferd hab ich das nicht angetan. Warum also mir selbst? Schöpfe ich nicht tatsächlich erst mein volles Potenzial dadurch aus, dass ich es auf meine ganz persönliche Weise FEIERE?
© Waldläufer 2023-01-18