Von außen betrachtet wirkt das Theater wie ein Fremdkörper. Wie eine Sauna mitten in der Sahara oder ein Raumschiff, das im Wald gelandet war. Weit und breit ist nichts außer einer alten Landstraße und leeren Feldern. Um das Gebäude herum liegt Schotter, nur vom Beton der Parkplätze durchbrochen.
Die McMillons sind ein normales Paar. Sie wohnen in einem kleinen Haus, haben zwei Söhne und arbeiten beide. Sie führen ein geregeltes Leben. Für Sarahs Geschmack manchmal zu geregelt.
»Wir haben zwei Tickets fürs Theater gewonnen«, sagte Mike. »Fürs Theater? Wie heißt das Stück?« – »The hunt.« – »Ich sage dir doch immer wieder, diese Gewinnspiele sind nichts weiter als Zeitverschwendung.« – »Na, offensichtlich doch nicht?«
Sarah wandte sich wieder ab, trocknete weiter das Geschirr mit einem weiß-roten Tuch. »Was ist los?« – »Nichts. Ich habe mir das nur alles anders vorgestellt, Mike.« – »Wovon redest du?« – »Ich bin müde.« – »Dann solltest du dich vielleicht etwas hinlegen, Schatz.« – »Ich meine nicht diese Art von Müdigkeit«, erwiderte Sarah, legte ihr Tuch weg und verließ die Küche. Bis zum Abend, an dem das Theater stattfand, redeten die beiden kaum noch.
In Reihe 5, erster Sitz rechts vom Gang, sitzt Ronald McCohen. Bis jetzt hat er nicht viel von dem Theaterstück mitbekommen. Seit dem Unfall lebt er in seiner eigenen Welt.
Du bist müde gewesen, überarbeitet. Es war nicht deine Schuld.
Zumindest versucht er sich das immer wieder einzureden. Doch sein schlechtes Gewissen treibt ihn in den Wahnsinn. Was, wenn der Motorradfahrer nach dem Unfall gestorben oder querschnittsgelähmt ist? Hat er eine Frau? Hat er Kinder? Ronald war alleinstehend. Mitte 50. An manchen Tagen und in den meisten Nächten wünschte er sich, es hätte ihn getroffen und nicht diesen Mann. Er sieht, wie der Motorradfahrer durch die Luft geschleudert wird, den Kontakt zu seinem Rad verliert und auf dem Rasen eines Grundstücks aufkommt. Der harte Aufprall sitzt McCohen immer noch in den Knochen. Er wollte anhalten, wirklich. Aber er hatte etwas getrunken. Er war wie ferngesteuert. Er fuhr weiter. An einer Raststätte fünfzig Meilen entfernt hielt er schließlich an. Er begutachtete seinen LKW. Es hatte das Fahrzeug weniger schlimm getroffen als gedacht. Er meldete die Schramme als Wildunfall. Hier in der Gegend kam es häufig vor, dass ein Reh durch den Wald die Straße passieren wollte und angefahren wurde.
Doch er bereut seine Entscheidung. Denn die Zeit, die man in Angst lebt, lebt man überhaupt nicht. Bei jedem Klingeln ist er sich sicher, dass es die Polizei ist, die ihn wegen Fahrerflucht mit Todesfolge verhaftet. Er malt sich Szenarien aus, in denen ein Beobachter, der den Unfall mit angesehen hat, ihn erpresst. Das hier war kein Leben mehr, es war die Hölle. Doch es war zumindest genau die Hölle, für die er sich selbst entschieden hat. Und so versucht er, die Gedanken zu verdrängen und sich aufs Theaterstück zu konzentrieren.
Der Vorhang öffnet sich wieder.
© Stefanie Unbehauen 2022-08-28