von Lisa Stenech
Würde ein großer Spiegel im Gang der U-Bahn stehen, wäre er ihr Ebenbild. Sich auf die Musik konzentrierend saugte er Wort für Wort seines Buches ein. Von der Seite erkannte man nur sein grobes Profil. I schlug ihr eigenes Buch auf und begann zu lesen. Er würde sicher genauso weit fahren wie sie, normale Menschen nahmen für eine kurze Fahrt kein Buch heraus. Sie würde also noch genügend Zeit haben, ihn anzusprechen. Die Bahn kam zum Stehen. Mehr Leute stiegen ein und der Raum füllte sich. I schielte vorsichtig zu dem Jungen mit den roten Kopfhörern hinüber. In einer kleinen Ewigkeit würde sie sich zu ihm setzen. Minute um Minute verging. I hatte schon ein gesamtes Unterkapitel fertiggelesen. Noch immer ratterte ihr Kopf Möglichkeiten durch, wie sie ihn ansprechen sollte.
Doch mit einem Mal geschah etwas Eigenartiges:
Sein großer Körper erhob sich und verließ die U-Bahn. I schreckte auf. Er hatte sie vollkommen damit überrumpelt, bereits nach einer knapp zehnminütigen Fahrt auszusteigen. Das hätte er nicht tun dürfen, das tat der Durchschnittsmensch nicht. Is Rücken fiel gewichtig auf die Plastiklehne zurück, sie hatte sich in ihm geirrt. Er hatte für wenige Momente des Lesens ein Buch aus der Tasche gezogen. Er war wie sie; achtete manchmal nicht auf andere, sondern tauchte ab. Ein Byebye-Gefühl im Panda-Style machte sich in I breit. Sie hatte diesen Moment verpasst. Diesen einen Augenblick, der ihre einzige Chance gewesen war, mit ihm zu sprechen. Dieser kurze Zeitpunkt, der einige Minuten angedauert hatte. Doch die Angst hatte sie überwältigt. Die Furcht davor, sich vor Menschen zu blamieren, denen sie in ihrem Leben wahrscheinlich nie wieder begegnen würde. Die sie so schnell vergessen würden, genauso wie sie sich kaum noch an den Choleriker in der Straßenbahn von vor einer halben Stunde erinnerte. Sie hatte sich dem Urteil derer entzogen, deren Voreingenommenheit sie so sehr verurteilte. Ihre Würde hatte sie schützen wollen, die sie selbst nicht einmal als schützenswert anerkannte. Für sich selbst würde sie nie einzutreten wagen, obwohl sie es für jeden anderen tat. Ihr lag mehr daran, andere glücklich zu sehen, als ihrem eigenen Leben Priorität zu verleihen. Denn die Menschen in ihrem Leben standen an oberster Stelle. Sie waren wichtiger als ihre Launen. Wichtiger als ihre Probleme. Wichtiger als ihr Leben. In der letzten Zeit überlebte sie von Tag zu Tag, ohne zu wissen, ob sie überhaupt glücklich war.
Und was hatte ein Leben dann noch für einen Sinn?
© Lisa Stenech 2021-07-22