von Julia Lang
Weiter geht die Reise. Auf meinem Flug halte ich kurz inne und genieße die Aussicht auf das Schloss, das ganz entfernt zu erkennen ist, wie es stark und groß neben dem stetig fließenden, im Sonnenlicht glitzernden Main steht. Ich habe schon lange nicht mehr nach einer meiner liebsten Bewohnerinnen der Straße gesehen. Das Mädchen in Hausnummer 32 ist fünfzehn und hat eine überaus schwierige Beziehung sowohl zu sich, als auch zu seinen Eltern. Sie ist Einzelkind, wird mit den tollsten Dingen überhäuft. Sie hat alles, was sich ein junges Mädchen wünschen kann. Das schönste Zimmer, das neueste Handy, die teuerste Kleidung. Doch das, was sie tatsächlich braucht, geben ihre Eltern ihr nur in geringen Dosen.
Das Mädchen bestraft sich selbst, indem es seinen Körper schindet. Ich höre ihren Magen durch das gekippte Fenster knurren. Und trotzdem macht sie eisern weiter mit ihren täglichen Sportübungen. Ohne Pause, ohne Unterlass. Ihr Körper schreit geradezu nach Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit, die sie von ihren Eltern nicht bekommt. Die sind zu sehr damit beschäftigt, ihre Karrieren voranzutreiben, ihr Haus vorzeigbar zu halten und sich auf Golfplätzen die Zeit zu vertreiben.
Natürlich tragen die Eltern keine alleinige Schuld an der Erkrankung ihrer Tochter. Es gibt viele Faktoren, die zusammen ein ganzes Bild ergeben. Schule, Freunde, soziale Medien. Und doch könnten die Eltern sie zumindest sehen, wenn sie ihr zuhören, sie wirklich verstehen würden. Anstatt das Offensichtliche zu ignorieren und zu verdrängen. Sich einzugestehen, dass die eigene Tochter Hilfe braucht, nicht die perfekte Puppe im rosa glitzernden Rüschenkleid ist, wäre wohl der erste Schritt. Anstatt sich für die Nachbarn Ausreden auszudenken, damit bloß niemand schlecht über die Familie redet. Als ob das nicht so oder so geschehen würde. Neid ist ein großer Motivator.
Die Gespräche am Tisch, sofern es denn ein gemeinsames Essen gibt, laufen immer gleich. Das Mädchen schiebt lustlos das Essen auf dem Teller hin und her. Die Mutter nippt an ihrem Detox-Smoothie, denn sie ist gerade auf Diät. Schönheit und jugendliches Aussehen haben eben ihren Preis. Der Vater sieht kaum von seinem Handy auf und schlingt sein Essen herunter, ohne zu registrieren, was er da eigentlich isst. Wenn jemand fragt, warum das Mädchen nichts isst, erzählt sie, dass sie bereits in der Schule gegessen hat. Auch wenn das letzte Essen in der Mensa bestimmt zwei Jahre her ist.
Das Mädchen tut mir leid. Sie hätte die Aufmerksamkeit verdient, um die sie mit solchen Opfern kämpft. Ich kann nur hoffen, dass ihre Eltern aufwachen, bevor es zu spät ist. Denn Geld und Schein sind eben nicht alles, was im Leben wichtig ist.
© Julia Lang 2024-06-19