von Emma Breuninger
Herbst 1956 – Ich bin sehr traurig. Meine einzige Freundin Birgit fliegt mit ihren Eltern zurück nach Hause, nach Ost-Berlin. Birgit ist meine „Sandstrand“-Freundin. Einen Sandkasten haben wir nicht, wohl aber einen ganzen Strand voller Sand und Kieselsteinen – dort an der Ostküste des Schwarzen Meeres, in Abchasien. Brigittes Vater ist von der Regierung der DDR extra nach Abchasien (zu jener Zeit ein Teil der georgischen Sowjetrepublik) geschickt worden, um die Rückkehr der deutschen Wissenschaftler zu organisieren, die nun seit 10 Jahren schon in der Sowjetunion arbeiten müssen. Den Wissenschaftlern werden sehr gute Arbeitsstellen in der DDR angeboten. Ungefähr 30 Familien jedoch bestehen darauf, direkt in die Bundesrepublik Deutschland zurückzukehren, da sie keine Verwandten in der DDR haben, darunter auch meine Familie.
Nachdem die „DDR-ler“ schon alle auf dem Heimweg sind, reisen auch Birgit und ihre Eltern kurz vor Weihnachten ab. Sie fliegen vom Flugplatz Tranda – dem Flughafen der abchasischen Hauptstadt Suchumi – erst nach Moskau, dann weiter nach Ost-Berlin. Es ist ein trüber Tag, es hat viel geregnet. Am Flughafen sind die Wege voller Schlamm. Mir ist es schwer ums Herz. Meine beste Freundin Birgit verlässt mich nun wirklich. Und keiner weiß, wann und ob man sich jemals wieder sehen wird. Ich winke dem Flugzeug hinterher und weine. Zurück zu Hause entdecke ich im Puppenbett ein Taschentuch von Birgit, eines mit einem grünen Rand und Puppen in der Mitte. Es ist schmutzig. „Mutti, Birgit hat ihr Taschentuch vergessen, was sollen wir machen“? „Wir waschen und bügeln es. Und du hebst es auf, bis Du Birgit wiedersehen wirst. Dann kannst Du es ihr geben“.
Im Februar 1958 dürfen auch wir endlich heimkehren. Zwei Tage geht es mit dem Zug von Suchumi nach Moskau. Dort müssen wir den Bahnhof wechseln. Und noch einmal zwei Tage Zugfahrt bis nach Helmstedt an der innerdeutschen Grenze und weiter ins Auffanglager Friedland. In Frankfurt an der Oder muss der Zug gewechselt werden. Und wer empfängt uns dort? Birgits Vater.
Er sieht mich und hebt mich aus dem Zug. Ich schaue zu ihm auf: „Birgit hat ihr Taschentuch vergessen. Hier ist es“. Ich strecke meinen Arm aus, in der Hand besagtes Taschentuch.
„Behalte es als Erinnerung an Birgit“, meint der Vater. Und das tue ich.
Erst im März 1991 – nach dem Fall der Berliner Mauer, nach der „Wende“ und nachdem ich aus Mexiko zurückgekehrt bin, wo ich 10 Jahre lang gelebt habe, erst dann können Birgit und ich uns wiedersehen, in Berlin.
Das Taschentuch nehme ich mit! Und nach all diesen Jahren beginnt eine wunderbare Freundschaft zwischen zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht hätten aufwachsen können, obwohl wir im Grunde genommen im gleichen Land lebten, aber eben in zwei so verschiedenen Staaten.
© Emma Breuninger 2020-07-10