Das verlöschende Licht

Pauline Marisol Schrank

von Pauline Marisol Schrank

Story

Eine einsame Seele, ganz allein. Wirkt in der Düsternis unscheinbar klein. Die Kälte macht ihr schon lange nichts mehr, zu lange ist die Wärme her.Verkümmert am Straßenrand liegend, zu schwach um zu stehen, wird es vom Strom der Menschen übersehen.

Doch als erklingt in ihren Ohren ein leises Glöckchen, Hell und fein, weiß die Kleine, was es könnte sein. Sie atmet den Duft von gebrannten Mandeln ein Und die Wolken hören nicht auf zu schneien.

„Die heilige Nacht“, denkt die klamme Gestalt. „Die heilige Nacht ist sicher bald.“ Erinnerung an eine vergangene Zeit, die ward beinahe vergessen, als sie hat in dieser Nacht, gelacht, gespielt und gegessen.

Doch erinnert sie sich an den Geschmack nicht mehr. Viel zu lange ist’s schon her. Liebliches Lachen schallt entfernt, doch diese Fähigkeit hat sie bereits verlernt. Name und Alter entsinnt sie sich nicht, nicht einmal ihrem Gesicht.

Die Zeit verrinnt Stund um Stund, wie der große Glockenturm gab kund.Mit den Sternen setzte ein Chorgesang ein und die Bettlerin lauschte in Mondes Schein. Der leisen schweren Melodie, die kam gleich dem Schmerz, sie vergaß nie.

Doch anders als beim letzten Mal durchbrach ein Licht ihre einsame Qual. Die Dunkelheit wich dem gleißendem Schein, zwar kalt und weiß, dennoch unendlich rein.

Ein mystisches Wesen gewickelt in Seide, Augen wie Eiskristalle pur. Feines Haar wie die Weben der Spinne, ein Widerspruch aller menschlichen Sinne.

Es schwebte umgeben von strahlendem Licht und streckte die zarten Finger nach ihr, der Bettlerin unter der eisigen Schicht.

Sie zögerte, sollte sie gehˋn? Mit der Gestalt, nur sie konnte sehˋn? So fragte sie in gebrochenem Klang: „Meine Familie, hast du sie zu dir genommen? Sind sie mit dir mitgekommen?“

Das schöne Geschöpf nickte besonnen: „Auch sie haben meinen Weg erklommen. Es ist an der Zeit. Für den Beginn deiner Ewigkeit.“ Sie griff nach der Hand, doch sie war zu schwach.

Der Engel umarmte die sterbende Seele. Und gleitet mit ihr zum Himmelsdach…

© Pauline Marisol Schrank 2022-08-01