Das verwächst sich noch!

Laura-Luisa Neitz

von Laura-Luisa Neitz

Story

Es war einmal ein kleines Mädchen. Nein, Quatsch. Das hier ist doch kein Märchen. Märchen sind frei erfunden, reine Fiktion. Das hier ist die Realität. Eine Sammlung an Momenten, gewebt vom Leben, verknüpft mit einem roten Faden. Eine Geschichte über die Angst vor dem Reden und die Liebe zur Sprache. Life is a story – das hier ist meine.

»Sie ist sehr schüchtern, aber das verwächst sich schon noch«, erklärt die Erzieherin ungefragt und besserwisserisch der Mutter, als sie ihre Tochter mittags aus dem Kindergarten abholt. Die Kindergärtnerin redet über Introvertiertheit, als ob es ein eingewachsener Zehennagel oder eine Fußfehlstellung sei. Eine lästige Sache, eine hässliche Abweichung von der Norm, die hoffentlich so schnell wie möglich von allein verschwindet. Spätestens wenn man den Kinderschuhen entwächst. Und wenn es sich nicht von selbst gibt, muss man halt über sich hinauswachsen – egal wie viel Kraft, Nerven und Tränen es kostet.

Wer nicht der Norm entspricht, muss in Form gepresst werden. Nonkonform ist unkomfortabel. Aber sind die Helden unserer Kindheit nicht gerade die Charaktere, die aus der Reihe tanzen? Möchtest du Annika nacheifern, wenn du wie Pippi sein kannst?

Das Kreischen der anderen Kinder hallt von den Wänden wider, während sie aus dem Fenster schaut und alle Vorbeieilenden um ihre Freiheit beneidet. Wieso muss es heute schon wieder regnen? Sie hasst Regentage. Nicht des Regens wegen. Zu gerne würde sie jetzt in ihre Gummistiefel schlüpfen, nach draußen laufen und in Pfützen springen. Doch bei „schlechtem“ Wetter bleibt die Tür zum Garten verschlossen. Von wegen Kindergarten. Was ist schon ein bisschen Schmutz auf dem Boden gegen diese mit Lärm verschmutzte Luft hier drinnen?

In einer Ecke wird schallend gelacht, in einer anderen gequengelt. Resigniert lässt sie sich auf einen der kleinen Holzstühle plumpsen, legt sich ein Blatt Papier zurecht und greift zu den Stiften. Beim Malen kann sie die Welt um sich herum für eine Weile ausblenden, um ihr dann wieder ein bisschen mehr gewachsen zu sein. Bunte Wachsmalstifte statt tosender Worte. Wenn die anderen schon längst die Geduld mit den Bastelscheren verloren haben und wie ein Tornado durch die Kita toben, ist sie es, die als Letzte am Tisch sitzt und voller Hingabe die Bastelei bis ins kleinste Detail zu Ende führt.

Bei „schönem“ Wetter ist sie als Erste draußen. Auf der Suche nach vierblättrigen Kleeblättern durchkämmt sie den Rasen, bastelt Kränze aus Gänseblümchen, beobachtet fasziniert all die umher krabbelnden Insekten und die vorbeifliegenden Vögel. Ach, wenn es mit den Menschen doch auch so einfach wäre wie mit den Tieren und Pflanzen!

Verwachsen hat sich meine Schüchternheit bis heute nicht. Ich bin gewachsen, aber nicht über mich hinaus. Warum auch? Mein Ziel ist es nicht, aus mir herauszuwachsen, sondern mich genau richtig zu finden, so wie ich bin. Mit Ecken und Kanten. Oft sprachlos, aber immer voller Worte.

© Laura-Luisa Neitz 2023-01-20

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