von Tim Arnold
Für mich war ein Traum in Erfüllung gegangen, als ich mit meiner Frau, nach unserer Hochzeit, in ein neues Haus ziehen konnte. Raus aus der dustren drei Zimmer Wohnung, rein in einen geräumigen, Sonnen-durchfluteten Neubau. Wir träumten lange von einem eigenen Haus und arbeiteten hart, um diesen Traum in Erfüllung gehen zu lassen.
Wir waren glücklich und lebten viele Jahre dort zusammen. Kinder hatten wir nie, doch störte uns das nicht. Irgendwann nahm die Zeit ihren Lauf und meine Frau wurde schwer krank. Ich brachte ihr Essen und Trinken ans Bett, half ihr beim Laufen und baute ihr einen Treppenlift, dass sie nicht nur im Erdgeschoss bleiben musste. Sie blieb mutig und kämpferisch, bis zum Ende, doch schließlich schied der Tod uns, nach 32 Jahren Ehe.
Die Tage tröpfelten vor mich hin, wie ein langsam austrocknender Bachlauf. Alles fühlte sich gleich an. Monoton und unbedeutend. An manchen Tagen verging die Zeit wie im Flug; an anderen weigerte sich die Sonne merklich, ihre Position am Horizont zu verändern, um mich noch eine Weile länger leiden zu sehen. Ich schlief durch den Tag und quälte mich Nachts, ob ich etwas anders hätte machen können. Vielleicht hätte eine andere Behandlungsmethode ihr ja geholfen. Vielleicht wäre dann alles anders ausgegangen.
Mit mir ging auch die Feste meiner Einsamkeit und meines Schwermuts zugrunde. Es fing an mit tropfenden Rohren und knarrenden Bodendielen. Irgendwann schlurfte ich im Delirium, induziert durch einen Dornröschen-artigen Schlaf, die Treppe hinab. Plötzlich löste sich die Halterung des Treppenlifts, welcher die unteren Stufen gemeinsam mit meinem Arm zerschmetterte. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, rief ich einen Krankenwagen und erhielt einen Gips. Der Schmerz vom Sturz war das echteste Gefühl, das ich seit ihrem Tod erfuhr.
Zwei Monate später – ich blätterte gerade durch alte Fotoalben – trug sich etwas Sonderbares zu. Die rote Wandtapete begann sich abzurollen, wie ein mit Marmelade gefüllter Pfannkuchen. Überall im ganzen Haus blieben nur noch weiß verputzte Wände zurück. Als ich dachte, es könne nicht obskurer werden, zogen sich, vor meinen Augen, schwarz-gräuliche Schlieren durch den weißen Putz, wie Öl durch einen Fluss. Die Bodenbretter bogen sich unter meinem Gewicht und füllten die Luft mit einem modernden Geruch. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob damals ein Jahr oder eine Minute verging, doch als ich wieder ins Wohnzimmer zu den Fotoalben ging, waren sie ausgeblichen und verstaubt, als hätten sie ewig dort gelegen. Es war, als hätte ich eine Zeitreise gemacht. Als hätte mir das Haus einen Spiegel vorgehalten, um mich vor meinem Schicksal zu bewahren.
Ich wachte benommen auf meinem Sofa auf. Wände, Boden und Fotos waren wieder normal. Selbst Treppe und Lift waren nicht länger zerstört und mein Arm war Gips-frei. Es fühlte sich alles so real an. Mir war egal, was damals real war und was nicht. Ich verstand die Botschaft. Ich erhielt noch eine Chance.
© Tim Arnold 2022-08-27