von SonjaUrbanek
Fünf Dinge sind es, die Sterbende am meisten bereuen, und diese Erkenntnis stammt nicht von mir:
Sie bereuen, nicht den Mut gehabt zu haben, ihr Leben so zu leben, wie sie es wollten; sich nicht getraut zu haben, ihre Gefühle zu äußern; sich nicht mehr Freude gegönnt zu haben; so viel gearbeitet zu haben und den Kontakt zu ihren Freunden verloren zu haben.
Was war also naheliegender, dachte ich mir, während ich coronabedingt zu Hause war, als zu überlegen, welche wertvollen Menschen ich früher gekannt und aus den Augen verloren hatte?
Da fiel mir Lea ein! Ich kannte sie aus dem Gymnasium. Sie war ein Lichtlick in einer dunklen Zeit gewesen. Ich recherchierte im Internet. Über ihren Bruder konnte ich sie ausforschen, und gleich darauf rief ich sie an.
„Ich bin’s, Sonja, äh… SonjaUrbanek!“
Was darauf folgte, war eine etwa siebensekündige Stille.
„SONJA!!!“ rief sie dann.
Jetzt hatte sie es geschnallt. Die Überraschung hätte größer nicht sein können. Lea freute sich unbändig, von mir zu hören, mit ihrer kindlichen Begeisterung, die ich schon als Teenager so sehr an ihr geschätzt hatte. Ja, das war Lea, zweifellos. Es war dieselbe Stimme, diese süße, zärtliche Kinderstimme, und dieses helle, kindliche Lachen, dessenthalben man Lea so leicht unterschätzt. Sie war es wirklich, da konnte kein Zweifel sein.
Ich stand mit dem Handy vor der Balkontür und schaute zum Rathausplatz hinüber, wo wir uns als Jugendliche in den Lokalen herumgetrieben hatten. Und ich schaute hin zum Gymnasium, wo ich sie kennen gelernt hatte; und wir lachten wie damals, erzählten einander zusammenfassend, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte, und freuten uns.
Lea ist verheiratet, Diplomkrankenschwester und Programmiererin und in der EDV-Logistik für Krankenhäuser tätig. „Da hast Du ja gerade einen besonders wichtigen Job!“, sagte ich anerkennend. „Einen besonders wichtigen Job hab‘ ich immer!“, gab sie lachend zurück. Ja, das war richtig! Lea ist eine bemerkenswerte Frau.
Nun war es an mir, über meinen Werdegang zu erzählen. Ebenso wie sie bin ich in der glücklichen Lage, meinen Weg gefunden zu haben und mein Leben so leben zu können, wie ich es will.
„Sag‘, und wie schaffst Du das mit den Schülern?“, fragte mich Lea dann, „kannst Du Dich durchsetzen? Ich meine, Du hast ja auch ein weiches Herz!“
Ich stutzte. Ja, das war wahr, wir hatten beide ein weiches Herz. Das war mir noch nie so aufgefallen. Wahrscheinlich war es das, was uns schon als Jugendliche miteinander verbunden hatte und was uns auch jetzt sofort wieder aneinander band.
Ja, wir sind wieder in Verbindung! Und „nach Corona“, da treffen wir uns!
Wäre es nicht jammerschade gewesen, wenn ich den Kontakt zu ihr verloren hätte? Und wie viele tolle Leute gibt es noch, die ich früher gekannt habe und die es wert sind, mit ihnen befreundet zu sein?
Alte Freunde wiederzufinden ist eine gute Beschäftigung in dieser Zeit. Ich sitze vor meinem Tablet und grüble; und sofort fällt mir gleich wieder jemand ein.
© SonjaUrbanek 2020-03-27