Das weiße Kaninchen

Sandra E. Mae

von Sandra E. Mae

Story

Alice war anders als die anderen. Das wusste sie, noch bevor sie wusste, dass sie rein gar nichts wusste.

Das erste Mal, als sie das weiße Kaninchen sah, war sie noch ein kleines Mädchen gewesen. Klein, unschuldig und schrecklich anständig. Sie hatte das hübsche Kleid und die hübschen Schuhe getragen, die ihr die Mutter gekauft hatte, und ein Bändchen im goldenen Haar. Sie hatte im Garten gespielt, in diesem wunderbaren, unbescholtenen, unberührten Paradies aus saftigem Gras, bunten Blumen und großen Obstbäumen, und die prachtvollen Farben leuchteten und vermischten sich mit wundervollen Düften. Alice hatte die Bienen und Käfer und Ameisen im Gras beobachtet und mit ihnen gesprochen wie mit alten Freunden. Sie hatte die Arme zur Seite gestreckt und die Augen geschlossen und den Wind unter ihren unsichtbaren Flügeln gespürt und war sich gewiss gewesen, fliegen zu können. Sie war bloßfüßig durch die nasse Wiese und über heiße Steine gelaufen, bis jemand sagte, sie solle sich ihre hübschen Schuhe wieder anziehen. Sie hatte gesungen und getanzt und war durch den Garten geschwebt, vogelfrei und leicht, nur für sich, nur für sich allein. „Würde man Alice nicht kennen“, hatte die Tante gesagt, „könnte man meinen, sie wäre verrückt.“

Alice wusste nicht, was „Verrücktsein“ bedeutete, aber es musste wohl etwas anderes sein als das, was die Leute für normal hielten. Das war auch gar kein Problem für Alice. Sie hatte ihre eigene kleine Welt, ihr Paradies aus saftigem Gras, bunten Blumen und großen Obstbäumen, aus prachtvollen Farben und wundervollen Düften, aus Bienen und Käfern und Ameisen und unsichtbaren Flügeln. Sie brauchte keine anderen Kinder. Sie brauchte überhaupt niemanden. Außer Abenteuer vielleicht. Und als das weiße Kaninchen das erste Mal auftauchte, da ergriff Alice es – das Abenteuer. Oder es ergriff Alice, so genau wusste sie das nicht. Aber plötzlich war es da, und Alices Neugierde war stärker als ihre Angst, und die Sehnsucht nach etwas, das sie nicht benennen konnte, war größer als die Vorsicht, die man ihr eingebläut hatte.

Und so folgte sie dem weißen Kaninchen, das eines sonnigen Vormittages im Garten saß; und sie folgte ihm durch die Hecken hinaus aus dem Garten übers Feld, hinauf zum Wald, dorthin, wo die Schatten lang und die Stimmen laut waren. Ihr Herz schlug schneller als ihre Beine sie trugen, aber sie folgte dem Kaninchen bis zu einer Lichtung, wo es einen Haken schlug und im Dickicht verschwand. Und Alice stand da, mitten im Wald, und die Bäume schienen ihr zuzuflüstern: „Komm, Alice. Auf die andere Seite. Dort gibt es mehr.“ Keiner konnte ihr sagen, was „mehr“ war, und ob es so viel besser oder schlechter wäre als das, was ihr bekannt war; doch sie wollte es haben.

Also raffte sie ihr hübsches Kleid nach oben und lief tiefer in den Wald, so tief, bis alles Schwarz war, und weil sie plötzlich nichts mehr sehen konnte, merkte sie zu spät, dass sie fiel.

Aber Alice war bereits gefallen. Vor langer, langer Zeit.

© Sandra E. Mae 2021-02-25

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