Das weiße Schaf unterscheidet sich kaum von den anderen Schafen – und so war es sich gleichgestellt mit seinen wolligen Artgenossen. Dieses eine weiße Schaf, „Holly“, wuchs von Geburt an in ihrer Herde auf. Sie empfand sich sicher und geborgen. Doch als sie zu einem wolligen, weißen Schaf heranwuchs, hatte sie einen einzigen Wunsch: Sie wollte ein besonderes Schaf sein. Ein Schaf, das sich von den anderen hervorhebt. Doch jeden Tag verglich sie sich mit ihren Geschwistern, Verwandten und Freunden. Sie sprach mit ihnen darüber: „Was ist an mir besonders?“ „Besonders? So ein Quatsch“, sagte ein anderes Schaf. „Wir sehen doch alle gleich aus – weiß, wollig und kuschelig.“ Ein anderes deutete mit der Nase zur Seite: „Sieh nur – dort, das schwarze Schaf. Das passt irgendwie gar nicht zu uns. Das sieht anders aus.“ Das kleine weiße Schäfchen, das so gern anders und einzigartig sein wollte, wurde immer trauriger. Und so beschloss es, sich von den weißen Schafen abzuwenden.
Langsam und leise tappte sie in die Richtung des schwarzen Schafs, das allein das frische, grüne Gras genoss. Er war ein Außenseiter. Niemand hegte den Wunsch, mit ihm zusammen zu grasen. Vorsichtig, in kleinen, langsamen Schritten näherte sich Holly dem schwarzen Schaf. „Hallo“, sagte sie leise, weil sie nicht erkannte, ob das schwarze Schaf freundlich oder eher brummig war. „Ich bin Holly. Und wie heißt du? Warum bist du immer allein? Warum kommst du nicht zu uns weißen Schafen?“
Das schwarze Schaf, mit dem saftigen Gras beschäftigt, sah mit weit aufgerissenen Augen zu Holly. Er war überrascht – und gleichzeitig ein wenig erfreut. Zum ersten Mal sprach ein weißes Schaf freundlich mit ihm. „Hast du etwa mit mir gesprochen?“, antwortete er, etwas verunsichert und doch mit tiefer, respektvoller Stimme, um seine Unsicherheit zu verbergen. „Ja, also… ich bin Willi. Und wie du unschwer erkennen kannst, bin ich das schwarze Schaf der Herde. Niemand will mit mir spielen oder gemeinsam fressen. Wenn es Ärger mit dem Schäfer gibt, bin ich immer schuld. Ich bin und bleibe das schwarze Schaf.“ „Was willst du?“, fragte Willi dann.
Holly trat einen Schritt näher. „Ich will wissen, wie es ist, besonders zu sein.“ Willi schaute sie verwundert an. „Besonders? Ich? Ich bin einfach nur… falsch. Zumindest sagen das die anderen.“ Holly setzte sich neben ihn ins Gras. „Und ich bin müde davon, gleich zu sein. Ich hatte gehofft, du zeigst mir, wie es ist, anders zu sein.“ Willi lachte leise – ein raues, aber warmes Lachen. „Ich kann dir zeigen, wie man allein frisst. Wie man tuscheln hört, wenn man vorbeigeht. Und wie man stärker wird, weil man niemanden hat.“ Holly sah ihn an. „Und doch bist du noch hier.“ Willi nickte. „Ich bin noch hier.“ An diesem Tag aßen sie zum ersten Mal gemeinsam. Es wurde kaum gesprochen – stattdessen wahrgenommen. In den folgenden Tagen kam Holly immer wieder. Mit der Zeit begann die weiße Schafherde, sie zu beobachten – wie sie Tag für Tag bei Willy blieb. Das weckte Neugier. Schließlich fassten sich die anderen Schafe ein Herz und blieben kurz stehen. Einige kicherten, andere nickten stumm. Ein junges Lämmchen mit einem grauen Fleck auf dem Rücken legte sich sogar zu ihnen. Langsam, fast unmerklich, veränderte sich die Herde. Und Holly?
© Christine_Bernstein 2025-05-24